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Eine Einladung zur makabren Party

In Berlin luden am Wochenende Handzettel zur Party in die Gaskammern des ehemaligen KZs Sachsenhausen ein / Deutsche sollten zum Nachdenken animiert werden  ■ Aus Berlin Annette Rogalla

Der Herr im grünen Sommerhemd läßt sich nicht provozieren. Er liest den Zettel einmal, zweimal, dann reicht er ihn zurück: „Vielen Dank, am Samstag habe ich schon eine Party.“ Die Provokation hat nicht gewirkt. Lennie, 36jähriger Maler und Animateur, der zu einer Gruppe von Undergroundkünstlern gehört, die durch Europa tingeln, ist nicht enttäuscht. Als nächstes drückt er sein Flugblatt einer Frau im Blümchenkleid in die Hand. Sie geht ein paar Schritte, liest, schüttelt mit dem Kopf, wirft Lennie skeptische Blicke zu. Der soll ein Rechtsradikaler sein? Mit den schwarzen, zerzausten Locken und der weichen Samthose?

Drei Tage lang verteilt Lennie seine handschriftlichen Einladungen zur Party in den Gaskammern des ehemaligen KZs Sachsenhausen – mitten in Ostberlin, nur wenige Meter entfernt von der jüdischen Synagoge. Auf seinen Zettelchen heißt es: „eingeladen zur Party, am 30. Juli (Samstag), 20Uhr, in die Gaskammer im KZ Sachsenhausen“. Auf der Vorderseite das Foto von Deportierten, die eng beieinander im Viehwaggon stehen. Der Grund seiner Provokationsaktion: Er will die Leute zum Nachdenken animieren.

„Damals, 1944, haben Sie, die Deutschen, diese Menschen zu einer Party in die Gaskammer eingeladen“, sagt Lennie, „heute lade ich Sie zu einer Party ein.“ Die blonde Frau im Blümchenkleid schnappt nach Luft. „Das ist widerlich. Das geht gegen jedes Schamgefühl.“ Lennie meint prompt: „Früher haben sich die Deutschen nicht geschämt.“ So sei es nun auch nicht gewesen, antwortet die Passantin und erzählt Lennie, den sie wegen seines bruchstückhaften Deutschs leicht als Ausländer erkennen kann, wie gut sie in der DDR-Schule über „die Zeit damals“ aufgeklärt wurden. Gedenkstätten habe sie besucht, antifaschistische Lieder gesungen, Widerständler seien in den Unterricht gekommen. Was also will er mit den Flugblättern?

Lennie kam aus London nach Berlin. Er ist Jude. Seine Großtante und der Großonkel wurden aus Hamburg verschleppt. Geschockt haben ihn die ausländerfeindlichen Brandanschläge in Hoyerswerda, Solingen und Mölln. Mißtrauisch machen ihn die bisweilen offenen Blicke der Feindschaft, die ihn treffen. Mit seiner Adlernase, dem dunklen Teint, den schwarzen Locken sieht er nicht wie einer von hier aus.

Neunhundert Flugblätter hat Lennie an drei Abenden verteilt. Er wollte testen, wie zufällige Passanten bei einer offenkundigen Provokation reagieren. „Die meisten fanden es nur geschmacklos. Viele sind einfach weitergegangen, einige haben mich beschimpft, mit wenigen kam ein Gespräch zustande“, so seine Erfahrung. „Nur einer hatte soviel Geschichtskenntnis, daß er mich darauf hinwies, daß in Sachsenhausen keine Gaskammern waren. Nur einer von neunhundert wußte über dieses KZ wirklich Bescheid.“

Auch den Polizisten vor der jüdischen Synagoge hat er Zettel in die Hand gedrückt. Sie lasen sie und steckten sie regungslos ein. Lennies Krisenexperiment verlief überraschend ruhig. Nur ein paar nahmen die Aktion ernst, freuten sich, daß sie an ungewöhnlicher Stelle, in einem KZ, mit einer Techno-Party rechnen konnten. Sie wurden am Samstag abend von Polizisten in Sachsenhausen zurückgewiesen.

Mit weiteren Provokationen von Lennie muß gerechnet werden.

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