: In aller Stille abgewickelt
Vom Verschwinden der DDR-Betriebs- bibliotheken ■ Von Micha Haarkötter
Ja, früher haben sie selbst Bücher verbrannt, die geistlichen Herren. Heute gibt es einen von ihnen, der buchstäblich Bücher aus dem Feuer holt. Martin Weskott, Pfarrer der Harzgemeinde Katlenburg, fährt von Woche zu Woche im Transporter des örtlichen Getränkegroßhändlers durch die neuen Bundesländer, um zur Vernichtung freigegebene Bücher in den Westen zu retten. Mehr als 150 Tonnen, über eine viertel Million Bände soll der Priester schon heimgeholt haben. Jeden Sonntag nach dem Gottesdienst werden die Bestände auf einem Basar in der Gemeindescheune verscherbelt. Doch es geht Weskott nicht um den Erhalt der sozialistischen Nationalkultur. Der Erlös des Ausverkaufs der DDR- Kultur geht an „Brot für die Welt“: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral! Die Klassikerausgaben des Ostberliner Aufbauverlags, die blauen Marx/Engels- Bände, Arnold Zweigs Antikriegsromane, Bitterfelder Belletristik oder DDR-Schulbücher werden nicht nur im Pfarrhaus von Katlenburg aufgehäuft. Westdeutsche Antiquariate, Trödler und fliegende Händler haben ihre Sortimente auf billigste Weise mit ostdeutscher Literatur aufgebessert.
Allerdings ist es immer noch der geringste Teil, der nun im Westen auf den Büchertischen verramscht wird. Nach der Wende wurden in der DDR Bücher massenhaft entsorgt, auf Müllhalden geschmissen oder auch verbrannt. Da wurden öffentliche Bibliotheken „gesäubert“, unverkäufliche Ostkultur- „Ware“ mußte Westpaperbacks weichen, Schulbücher wurden „behutsam modernisiert“. Der Löwenanteil vernichteter Bücher aber stammt aus der Auflösung der Gewerkschafts- und Betriebsbibliotheken der DDR, den ehemaligen Arbeiterbibliotheken.
Von den 667 hauptamtlich geführten Arbeiterbibliotheken der DDR mit insgesamt 1.441 meist weiblichen Beschäftigten existierten im Frühjahr 1992 noch ganze 16, derzeit dürfte – nach der Streichung vieler ABM-Stellen – nicht mehr als eine Handvoll dieser Einrichtungen übriggeblieben sein. In Thüringen hat keine der Arbeiterbibliotheken das Ende des Realsozialismus überstanden. Befragungen von ehemaligen Bibliothekarinnen durch das Institut für Bibliothekswissenschaft der Humboldt-Universität Berlin ergaben, daß in keinem einzigen Fall erhaltenswerte Buchbestände vollständig von anderen kulturellen Einrichtungen der neuen Bundesländer übernommen wurden. Die Wiedervereinigung begann im kulturellen Bereich mit der größten Büchervernichtung der Nachkriegszeit.
Geschichte der Arbeiterbibliotheken
Schon die Keimzellen der europäischen Arbeiterbewegung waren kulturelle Einrichtungen, die Arbeiterbildungsvereine. Der Produktionsfaktor Bildung sollte der Bourgeoisie entrissen werden. „Wissen ist Macht!“ lautete die Parole und machte das Lesen zur revolutionären Pflicht.
Mit der Gründung von Arbeitervereinen wurden auch Vereinsbibliotheken eingerichtet. Zum Bestand der Arbeiterbibliotheken gehörten neben den Werken des bürgerlichen Humanismus, besonders der deutschen Klassik, vor allem partei- und gewerkschaftspolitische Schriften, Arbeiter-Autobiographien, Erinnerungen, Zeitungen, Zeitschriften und wissenschaftliche Literatur.
Ein erstes Ende fand das Arbeiterbibliothekswesen mit der nationalsozialistischen „Machtergreifung“. Standen auch die Zerschlagung der Arbeiterbewegung am 2. Mai 1933 und die Bücherverbrennungen durch Burschenschafter und andere reaktionäre und faschistische Studenten am 10. Mai 1933 institutionell nicht in Zusammenhang, so förderte die zeitliche wie auch die ideologische Nähe der Ereignisse die Vernichtung der Arbeiterliteratur. Den sogenannten „schwarzen Listen“ zufolge sollten Bibliotheken von aller marxistischer, demokratischer und humanistischer Literatur „gesäubert“ werden. Somit blieb von den Beständen der Arbeiterbibliotheken praktisch nichts mehr übrig.
Noch unter der Sowjetischen Militäradministration für Deutschland (SMAD) wurde, wie es in der Zeitung Die freie Gewerkschaft hieß, „die Werksbibliothek als Waffe gegen den Nazismus“ gesehen. Die antifaschistische Einheitsfrontpolitik, also die Bündelung aller demokratischen und humanistischen Kräfte im Kampf gegen den Nazismus, prägte auch die Bestandspolitik der Bibliotheken: Vor allem Werke des humanistischen „Erbes“, also nicht zufällig solche Autorinnen und Autoren, deren Werke von den Nazis verbrannt worden waren, bildeten den Grundbestand vieler neugeschaffener Einrichtungen.
1949 wurden die Betriebsbüchereien in den Zweijahresplan integriert und die Bibliotheksentwicklung erstmals in einen zentralen Volkswirtschaftsplan eingereiht. Durch die „Verordnung über die weitere Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter ...“ wurden die Arbeiterbibliotheken auch offiziell dem FDGB überantwortet und in der betrieblichen Kulturarbeit verankert. Die Bibliothekarinnen galten nun als Kulturfunktionärinnen der Gewerkschaft, ihre Entlohnung sowie die materielle und finanzielle Ausstattung der Bibliotheken erfolgte aber über betriebliche Fonds. Es bürgerte sich allgemein der Begriff „Gewerkschaftsbibliothek“ ein. Im Arbeitsgesetzbuch (AGB) der DDR von 1977 wurde die Arbeit der Gewerkschaftsbibliotheken schließlich gesetzlich geregelt.
Zwischen den Arbeiterbibliotheken und den in Westdeutschland existierenden Werksbibliotheken besteht ein grundsätzlicher Unterschied. Zwar wurzeln auch diese im 19. Jahrhundert, sind aber allein der Güte des privaten Unternehmers zu verdanken. Die Werksbibliotheken sind eine grundsätzlich freiwillige und gesetzlich nicht vorgesehene Firmenleistung und stehen mit der Gewerkschaft in keinem Zusammenhang, zumal der westdeutschen Gewerkschaftsbewegung die betriebliche Kulturarbeit fremd ist. Diese Einrichtungen bestehen zu über 70 Prozent aus Sachliteratur, was weniger der Bildung als der Produktivität zugute kommen soll. Zur Zeit gibt es in den alten Bundesländern rund 140 solcher Werksbüchereien, von denen 50 Mitglieder im Verband der Werksbibliotheken in der BRD sind.
Zerschlagung nach der Wende
Nach dem Fall der Mauer im November 1989 ging es mit den Arbeiterbibliotheken besonders rapide abwärts. Seit Januar 1990 wurde die Arbeit der meisten Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL) in der DDR eingestellt. Diese neue Freiheit hatten die Büchereien mit massiven Existenzproblemen zu bezahlen, da deren Ausstattung nun wieder in die alleinige Verantwortung der Betriebe fiel. Und da deren ökonomische Situation sich unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten als desolat erwies, trafen die notwendigen Einsparungen zuerst die kulturellen Leistungen. Außerdem stiegen die Preise für Druckerzeugnisse schon im Frühjahr 1990 um ein Vielfaches.
Bibliotheken, die all dies überstanden hatten, traf als nächster Schlag die Währungsunion. Ausstattungs- und Personalkosten stiegen, so daß sich die meisten Firmen kulturelle Einrichtungen nicht mehr leisten konnten. In dieser Situation hätten alleine die westdeutschen Gewerkschaften, die sich in der DDR oft ähnlich kolonialherrlich breitmachten wie ihre Sozialpartner, noch Rettungsversuche unternehmen können, indem sie auf die einschlägigen Bestimmungen des immer noch gültigen AGB gepocht hätten. Doch erwiesen sich, wie die Berliner Bibliothekswissenschaftlerin Carmen Adam schreibt, in Wirklichkeit die Anstrengungen der verbliebenen Bibliothekarinnen auch als „Kampf gegen die Ignoranz der Industriegewerkschaften gegenüber den Gewerkschaftsbibliotheken“. Die einmalige Chance, betriebliche Kulturarbeit der Gewerkschaften in die Bundesrepublik hinüberzuretten, wurde vom DGB leichtfertig verspielt und statt dessen der Kulturvernichtung Zunder gegeben. Die Wege der Bestände aufgegebener Arbeiterbibliotheken lassen sich kaum nachvollziehen, da deren Auflösung in keinerlei institutionellem Rahmen vor sich ging und in einem weitgehend rechtsfreien Raum geschah, ja illegal war. Vereinzelt konnten Bestände anderen Einrichtungen übergeben werden:
– So konnten mehrere tausend Bücher aus Gewerkschaftsbüchereien einer Behinderteneinrichtung in Cottbus gestiftet werden.
– Die Zentralbibliothek des FDGB in Berlin wurde vollständig erhalten und untersteht seit dem 1. Januar 1993 per Bundesgesetz als Stiftung dem Bundesarchiv in Koblenz.
– Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Zentralbibliothek haben in einer privaten Aktion die 70.000 Bände der Bibliothek der aufgelösten Gewerkschaftsschule in Bernau in ihre Einrichtung nach Berlin geschafft.
– Werke von wissenschaftlichem Wert mögen im Einzelfall bei der „Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände“ an der Berliner Humboldt-Universität gelandet sein.
Die letzten Überlebenden
Der größte Teil der über neun Millionen Medieneinheiten, die zu DDR-Zeiten in den Gewerkschaftsbibliotheken zur Verfügung standen, dürfte jedoch vernichtet worden sein, und da selbst der Transport zur nächsten Mülldeponie bei diesen Büchermassen oft unüberwindliche Schwierigkeiten bereitete, mag doch häufiger ein Feuerchen nachgeholfen haben, als es in jener Zeit selbst durch die Randnotizen der Tagespresse flackerte. Die meisten dieser Feuerbestattungen fanden wohl in aller Stille statt.
Durchweg positive Erfahrungen mit lesenden Arbeitern hat Ingrid Winkler gemacht. Sie war Leiterin der Betriebsbibliothek der Buna-Werke in Schkopau, einer der letzten Einrichtungen ihrer Art. Einst blickte Frau Winkler auf ein stolzes Reich: Für die früher 21.000 Beschäftigten bei Buna standen acht hauptamtlich und elf ehrenamtlich geführte Büchereien mit insgesamt annähernd 100.000 Medieneinheiten zur Verfügung. Neben den jährlich 125.000 Mark für die Buchbeschaffung verfügten die studierte Bibliothekarin und ihre 17(!) Mitarbeiterinnen über 10.000 Mark für kulturelle Veranstaltungen. Jährlich kamen auf diese Weise 50 bis 60 AutorInnen ins Werk, um zu lesen oder mit den Arbeiterinnen und Arbeitern zu diskutieren. Ab Januar 1990 wurden von der Betriebsleitung erst die Zweigstellen der Bücherei geschlossen, dann nach und nach alle Mitarbeiterinnen entlassen. Aufgrund der Unterstützung durch den Betriebsrat, einer wohlwollenden Betriebsleitung und Hilfestellungen des westdeutschen Werksbibliothekenverbandes, der 5.000 bereits abgeschriebene (!) Bücher spendierte, konnte Frau Winkler die Hauptbücherei über Wasser halten und sich selbst auf eine ABM-Stelle retten.
Die Bücher der Zweigstellen wurden an Kindergärten und Seniorenheime verschenkt. Eines Tages kamen Sozialisten aus Norddeutschland mit einem Bus und nahmen „für ganz wenig Geld“ einen Gutteil der überzähligen ML- Literatur mit. Den Hauptbestand der Bücherei hatte Frau Winkler aber nur unwesentlich bereinigt. „Also, die SED-Parteitagsprotokolle und so, das kam raus. Aber der Marx? Ich meine, wir sehen doch heute, daß der in vielem recht gehabt hat.“ Die Bibliothek mußte in den Keller der Betriebsberufsschule umziehen. Für viele Beschäftigte ist dieser abseits gelegene Ort auf dem 450 Hektar großen Buna-Gelände zu weit entfernt. Dennoch konnte Frau Winkler täglich 200 Entleihungen registrieren. Der Geschmack der lesenden Arbeiter hat sich freilich gewandelt: Heute ist Weiterbildung gefragt, Computerbücher, Fremdsprachenführer und Reiseliteratur, außerdem Geschichtsbücher, besonders über den Zweiten Weltkrieg, und westdeutsche Trivialromane.
Doch um das Niveau ihres Sortiments wieder zu heben, hätte die Bibliothekarin Sachmittel gebraucht. Nachdem jedoch ihre ABM-Stelle im November 1992 ausgelaufen war, war Frau Winkler zwar wieder Angestellte der Buna- Werke, hatte aber eine Betriebsstelle ohne Sachkosten: Keine müde Mark war für Neuanschaffungen oder die Restauration der vorhandenen Bände vorgesehen. Doch mit den vierteljährlich etwa 80 Mark, die die findige Büchereileiterin durch Buchverkauf einnahm, ließ sich eine Bibliothek mit immer noch über 30.000 Büchern auf lange Sicht beim besten Willen nicht in Schuß halten. Konsequenz: Unlängst hat auch Ingrid Winkler aufgegeben und ist mit ihrem Mann in den Westen gegangen – die Türen der Arbeiterbibliothek sind seitdem geschlossen. Solange die Treuhand allerdings noch auf der Suche nach Käufern für den sächsischen Chemiekonzern ist, wird sie diesen verkaufshemmenden kulturellen Klotz am Bein nicht wiedereröffnen. Das bedeutet wohl das Ende für eine der letzten Arbeiterbibliotheken Deutschlands.
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