: Steine und Termiten
■ Was die Leichtathletik-Europameisterschaften in Helsinki mit den alten Griechen und den Watussi verbindet
Sabine Braun sackte zusammen wie ein Luftballon, aus dem die Luft rausfährt. Aus, vorbei. Europameisterin, Titel verteidigt, Erwartungen erfüllt. Fertig. Völlig. Gewonnen! Aber Freude macht sich auf ihrem Gesicht nicht breit, wiewohl sie mit der Sportlern eigentümlichen Philosophie verkündet: „Sieg ist Sieg.“ Wen interessiert schon, daß die Frau, die bei Steilmanns in Wattenscheid industriereif geschult wird, „nur“ 6.419 Punkte gesammelt und viele verschenkt hat? Trainerin Gertrud Schäfer vielleicht, die sich nach zwei Tagen Siebenkampf-Zuschauen um „Jahre gealtert“ wiederfand. Verschenkt zum Beispiel der Weitsprung. Zweimal über den Plastilin-Balken getappt und dann mäßige 6,32 Meter. Na ja, zumindest besser als Dietmar Haaf. Der Europameister von Split hat seinen Titel völlig in den Sand gesetzt. Mit einem Hüpfer von 7,55 Metern gingen für den Elektronikstudenten bereits in der Qualifikation alle Lichtlein aus – Endkampf verpaßt. Draußen.
Vielleicht hätten sich die beiden bei ihren Sandkastenspielchen ein Beispiel an den alten Griechen nehmen sollen. Wie wär's denn mal statt Hitch-Kick (Laufsprung) oder Schwebehandsprung (Beine werden erst kurz vor der Landung nach vorne gekickt) mit dem Halterensprung. Phayllus hat er damals gute Dienste geleistet. Der antike Grieche soll gar 16,30 Meter weit gebeam(on)t, nein besser gepowe(ll)rt worden sein, dank der Schubkraft der bis zu fünf Kilo schweren Steingewichte (Halteren), die er während der letzten Anlaufschritte munter vor- und zurückgeschwungen hat. Nicht? Schon gut, war ja nur so ein Vorschlag. Vielleicht für den Tag, an dem Sabine Braun wahrmacht, was sie angeblich von Anbeginn an beflügelt hat: „Einmal Jackie Joyner-Kersee schlagen.“
Könnte sogar passieren, daß sie noch mehr motivationsförderliche Konkurrenz bekommt. Heike Drechsler, Olympiasiegerin der Sandgrube, hat vor ihrem Auftritt angekündigt, sie wolle sich im September in Talence im Mehrkampf probieren – „nur aus Spaß“, hat die 29jährige augenzwinkernd versichert, „dafür würde ich es sogar umsonst machen“. Muß sie nicht. Denn den Franzosen ist ihr erster Siebenkampf ein erkleckliches Sümmchen (psst! geheim!) wert. Was Frau Brauns Laune („das war ein Arbeitssieg und nicht mein Wettkampf“) nicht unbedingt heben dürfte. Da mag ein Christian Schenk, Zehnkämpfer im Ruhestand, noch so nett loben: „Sabine ist eine ausgezeichnete Athletin“, Ungerechtigkeit ist der Welten Lohn.
Schenk im übrigen hat sich nun, mit einer Thrombose in der linken Wade, definitiv von der Qual im Oval verabschiedet und sich dem Journalismus zugewandt: „Ich habe so viele Verletzungen gehabt, ich will mich nicht noch einmal überwinden müssen.“
Das mußte Steinar Hoen. Fußkrank zwar, überflog der Norweger doch die Hochsprunglatte am höchsten, bei 2,35 Metern. Umsonst hat der Pole Artur Partyka jene Stange mit einem zärtlichen Küßchen nach übersprungenen 2,33 Meter zum Nicht-Fallen becirct. Nee, was eine rechte Latte ist, die ist unbestechlich. Das hätten ihm die Sjöbergs, Thränhardts, Mögenburgs sagen können. Nur, die alten Herren blieben fern und überließen Jünglingen das Terrain. Wie dereinst beim ostafrikanischen Stamm der Watussi, Begründer des Hochsprungs. Dort mußte nämlich jeder Heranwachsende von einem Termitenhügel aus nach rechtwinkligem Anlauf über die eigene Körpergröße springen. Dann erst war ein Mann ein Mann. coh
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