: Die Krone der Gastlichkeit
■ In Hannover trafen sich am vergangenen Wochenende seit zehn Jahren erstmals wieder Punk-Veteranen nebst Nachwuchs zum einstmals traditionellen Chaostag. Helga Schulze war dabei und sah ein echtes Stück ...
Samstags um halb elf komme ich auf dem Hauptbahnhof Hannover an. Langsam laufe ich zum Ausgang – aha, das erste Grüppchen von vier Punks. Weiter zum Ausgang Richtung Ernst-August- Platz, und ich muß grinsen: er ist zur Hälfte zugegrünt. Tscha, es sieht so aus, als seien alle wieder auf ihren Plätzen, die zwangsverpflichteten Laiendarsteller und ... (durch die Tür) ... ja, richtig, die auftrittswilligen Profis. Alle sind auf ihren Plätzen, die Erwartung wird nicht enttäuscht: Unterm Denkmal sitzt eine Gruppe von vielleicht siebzig Punks, teils biertrinkend, teils dösend, teils in Gespräche vertieft. Jeder Zweifel ist zerstreut: Es ist Chaostag.
Um den Eingang zur Passerelle herum frage ich nach dem gestrigen Abend, und wie mir erzählt wird, muß schon einiges los gewesen sein – es sollen halbe Züge voller Punks direkt zurückgeschickt worden sein (nach Hamburg, Bielefeld, ins Ruhrgebiet, was immer) –, kaum stieg eine größere Gruppe aus (etwa zwanzig oder mehr), wurde sie zum Fahrscheinschalter eskortiert und in den nächsten Zug zurück gesetzt. Wurde erzählt. Dabei sollen auch einige Bands drunter gewesen sein, was mir nach dem Minimalkonzert auf dem Fährmannfest (Musik ja, aber kaum Punk) glaubwürdig erscheint. Wie immer: In die Stadt einzusickern ist die erste Hürde, die es zu überwinden gilt. Das hat sich also nicht geändert.
Sobald sich eine größere Gruppe vorm Hauptbahnhof biertrinkenderweise niedergelassen hatte, wurde sie eingesackt – bis sämtliche Knäste und Turnhallen voll waren, dann erst hätten sie's aufgegeben. Wurde erzählt. Vor der Lutherkirche in der Nordstadt soll es eine Spontanparty gegeben haben; möglicherweise hat es dabei ein wenig gescherbelt (Bierflaschen auf der Straße, nehme ich an), und die Straße wurde halt vom Durchgangsweg zum Treffplatz umfunktioniert, aber das dürfte auch alles gewesen sein.
Unten in der Passerelle treffe ich auf ein Grüppchen von sechs Leuten – zwei Frauen Mitte zwanzig, die ein wenig dösen, einen Oi!- Skin aus Düsseldorf, wohl im selben Alter, einen alkoholkranken Einheimischen, der aber sehr freundlich ist, und zwei eher unauffällige Männer über dreißig, von denen mir der eine als „der Organisator“ vorgestellt wird – er soll den einen Aufruf verfaßt haben. Er ist aber gerade im Gehen – „Ich muß meinen Job machen, ehrlich“ – und schleppt eine Videokamera herum. Immerhin ist von ihm zu erfahren, daß das einzige Konzert auf dem Fährmann-Fest stattfindet. Der Oi!-Skin, der sehr aufgekratzt ist, da er schon seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen hat, berichtet von einer zahlenmäßig ansehnlichen Punk-Gemeinde in Düsseldorf – viele Zwölf- bis Dreizehnjährige mit Sid-Vicious-Frisur und T-Shirt („Die waren noch nicht mal geboren, als der schon tot war.“), massenhaft Iros. Er belustigt sich – zu Recht – über die Leute, die nicht begreifen, daß er kein Naziskin ist: wer zu Lonsdale- T-Shirt und Docs einen silbernen Afrika-Anhänger am Lederbändchen um den Hals trägt, kann ja wohl kaum der „Ausländer raus“- Dumpfbackenfraktion angehören.
Oben am Passerelleneingang rede ich mit zwei Münchnern über dreißig (wie ich), die auch 84 schon dabei waren; einer meint, die Polizeitaktik bestünde darin, die Sprengelfabrik kaputtzumachen, denn sie sei derart eingezäunt, daß man durch ein Spalier nur zu einem Eingang hereinkäme; er befürchtet eine Wiederholung der Zerlegung des Glocksee-Jugendzentrums; dies erweist sich jedoch als Gerücht, zumindest sonntags um zehn, als ich nachschauen ging, stand alles noch. Zwar war die Straße leicht bescherbelt, und vier herumstehende Autos hatten kaputte Scheiben, aber im Vergleich zu den Früh- und Mittachtziger- Straßenschlachten sah alles recht harmlos aus. Eine Anwohnerin, vielleicht Mitte vierzig, schwang den Besen und nahm's mit Humor: immerhin, man war doch mal wieder mitten im Zentrum des Geschehens gewesen. Aber das war sonntags, als die meisten sich schon auf den Heimweg machten.
Samstags so um ein, zwei Uhr treffe ich auf eine Gruppe aus Magdeburg/Brandenburg/Potsdam, die von einer Einkesselung vorm Hauptbahnhof berichten: es soll ein seltsames Bild gewesen sein, da die Dreizehn-, Vierzehnjährigen stets durchgelassen wurden, die älteren festgehalten und irgendwann abgeräumt.
Ich gehe zum Kröpcke und weiter in die Innenstadt – ich will mir Mülltüten als Schlafunterlage besorgen – hier ist von Punks nichts zu sehen, geschweige denn zu hören, dafür ist die ganze Straße ein einziger Flohmarkt. Der israelische Sonnenbrillenverkäufer wundert sich über das Polizeiaufgebot: „Die sitzen doch bloß rum und trinken Bier, wieso ist da soviel Polizei?“ Ich murmle was von „deutscher Folklore“ und „Rollenspiel“, da es mir auch nicht wirklich einleuchtet, daß bei Hitze öffentliches Biertrinken untersagt sein soll.
Um drei Uhr nachmittags beginnt das Fährmannfest, eigentlich ein „Alternativ“-Fest mit Ständen von Radio Flora, Umweltgruppen und einer riesigen Luftmatratze, auf der die Kinder Trampolin springen; auf der anderen Seite der Justus-Garten-Brücke sind zwei Bühnen aufgebaut, hier soll das Konzert stattfinden. Es haben sich bereits etwa dreihundert Punks angesammelt, der unter der Brücke aufgehängte Jolly Roger mit Augenklappe dient als Treffpunkt. Weitere kommen angeschlappt; ich lasse mir von einer Gruppe römischer Punks den Kiosk zeigen, an dem es kaltes Bier gibt; die Inhaberin sagt, heute würden sie ihren Laden nicht schließen, und ich wünsche ihr noch guten Umsatz.
Auf dem Fest spielen einige Gruppen, die entfernt nach den „Skeptikern“ klingen, was mich nicht so freut, denn ich liebe ihren klagenden Ton nicht; leider vergessen sie ständig, sich anzusagen, so daß niemand weiß, wer sie sind und wie sie heißen. Endlich spielen die Boskops, die mangels anderer allseits bekannter Bands schon den Höhepunkt bilden. Immerhin reißen sie die Leute auf die Füße; zum Pogen hat, scheint's, trotzdem niemand Lust. Was ich recht eigenartig finde, denn vom Berliner Publikum geht die Fama, es stehe immer nur unbewegten Gesichts dabei und wippe allenfalls mit dem Fuß, aber hier in Hannover scheint man selbst diese Minimalbewegung noch einzusparen. Es gibt eine Pause, und vom anderen Ufer dringt ein fett baßlastiger Sound herüber, dessen Quelle ich mir unbedingt ansehen muß. Zu meiner Überraschung kommt er von der Straßenfest-Bühne hinter dem Kinder-Trampolin, zu deren Füßen etwa zwanzig Alternative zwischen zwanzig und vierzig sitzen. Ein einziger steht und ist völlig begeistert – der, neben dem ich auf der anderen Seite zeitweise saß. Wieder ist mir unbegreiflich, wie man bei der Musik sitzen bleiben kann: „Die Krone der Gastlichkeit“ macht eine Musik irgendwo zwischen Iggy Pops „Lust For Life“ und den frühen Cramps. „Der volle Acid Sound, so haben wir früher dazu gesagt“, meint ein Vierzigjähriger mit kurzen Hosen und Bart, der gleichfalls entzückt lauschend stehenbleibt.
Nachdem wir sie mehrfach zu Zugaben animiert haben – eine Kapelle, die mit Verzerrern wirklich umgehen kann, findet sich nicht alle Tage –, wechsle ich wieder das Ufer; dort sind kaum noch Punks zu sehen, zwei Grüpplein machen sich gerade auf den Weg. Eine rein weiße, vermutlich einheimische Reggaekapelle nervt, findet aber riesigen Zulauf durch alternativ angehauchtes und brav- normales Publikum. Erst am Sonntag mittag erzählt mir ein Kasseler Antifa, was war: ein Zettel ging rum, auf dem es hieß, die Bremer Punks hätten sich für die massenhaften Verhaftungen am Freitag tags darauf mit Gescherbel „bedankt“, und die Leute in Hannover sollten sich zur Sprengelfabrik begeben. Was sie offenbar auch taten, obwohl das dort geplante Konzert ins Wasser gefallen war, vielleicht wegen der abgefangenen und zurückgeschickten Bands –, und außer einer kleinen Musikeinlage von fünfzehn Minuten aus dem Bandbus Samstag nachmittag vor der Lutherkirche wurden keine Attraktionen geboten.
Allerdings hatten sich wohl viele entschlossen, dort ihren Schlafplatz zu nehmen. Es muß dann einen heißen Abend gegeben haben, wobei der Antifa das völlige Fehlen eines Ermittlungsausschusses kritisierte und die sinnlosen Ausfallversuche der „besoffenen Kinder“, die dazu führten, den Eingang für Knüppelkommandos und weitere Verhaftungen zu öffnen. Einige konnten sich verstecken – im Haus und auf dem Balkon der Nachbarin –, und ohne Verletzte wird es wohl kaum abgegangen sein; die Sprengel-Leute betätigten sich tapfer als Sanitäter, obwohl sie auf Auseinandersetzungen nicht gerade erpicht waren, und ließen danach die Übriggebliebenen übernachten.
Ich selbst traf am Samstag abend vor dem Hauptbahnhof zwei Gruppen von etwa je dreißig Punks an, von denen zumindest ein Teil gerade aus dem Knast entlassen worden war (um Mitternacht); es war mir dort zu zugig, und so legte ich mich auf einem alten Friedhof beim Hannoverschen Anzeiger unter einen Busch.
Um den Passerelleneingang gab es wieder diese albernen rot-weißen Flatterbänder, die irgendwelche imaginären Grenzen aufrichten sollen; ihre Funktion war mir schon vor elf Jahren unbegreiflich. Am Sonntag mittag dienten sie dazu, eine etwa zwanzigköpfige Gruppe von Punks auf dem Heimweg zu umrahmen, während die Polizei am Eingang wieder Türsteher spielte. Und wie damals kamen wieder diverse Popperkinder an, die einen Blick auf die Szene erhaschen wollten, aber wieder hoffnungslos zu spät dran waren.
Die einzige Auseinandersetzung mit Faschos, die mir zu Ohren kam, soll wohl vor der „Röhre“ (einer Disko) stattgefunden haben, als eine Gruppe von Fascho-Poppern der Punks und Antifas ansichtig wurde und diesen nachsetzte. Ansonsten waren keinerlei Nazi- Skins gesichtet worden, auch keine Lederjackennazis; es waren wohl wirklich ausschließlich Oi!-Skins und Punks gekommen, von Auseinandersetzungen der „Teilnehmer“ untereinander war weder zu sehen noch zu hören gewesen.
Vorschlag: Nächstes Jahr macht die Polizei keine Überstunden und eskortiert ankommende Kapellen direkt auf den Festplatz, und die Flatterbänder werden dazu benutzt, eine Laufspur an der Seite des Denkmals vorbei freizuhalten. Das alljährliche Ritual würde sich dann möglicherweise zu einem musikalisch interessanten Fest weiterentwickeln, statt auf der Ebene des immergleichen Rollenspiels zu verharren ...
Also dann, bis nächstes Jahr.
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