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Allein gegen Résistance und Wehrmacht

Der deutsche Unteroffizier Heinz Stahlschmidt rettete vor 50 Jahren den Hafen von Bordeaux vor der Zerstörung. Nach dem Krieg wurde er der Feuerwehrmann Henri. Auf eine Anerkennung wartet er bis heute vergeblich.  ■ Aus Bordeaux Christian Seguin

Die Stunden vergehen, das Eiswasser verschluckt einen Seemann nach dem anderen. Heinz kämpft noch. Er ist ein hervorragender Schwimmer. Ein Torpedo hat den Bauch des Truppentransporters aufgerissen. Um Heinz herum ertrinken 560 Männer an diesem 2. September 1940 zwischen Dänemark und Norwegen, aber er hat keine Angst. Er hat schon am 21. Juni eine Havarie erlebt, auf einem Fischerboot, das für die Küstenverteidigung requiriert worden war. Und am 9. April hat er gesehen, wie sein Panzerkreuzer, die „Blücher“ im Fjord von Oslo absoff wie ein Bügeleisen. Er hat auch gesehen, wie Männer die Flucht ergriffen.

Heinz Stahlschmidt kann nicht fliehen. Er will sich nicht als Verräter fühlen. Der Tod verfolgt ihn seit Wilhelmshaven, wo er im Oktober 1939 zum ersten Mal an Bord ging. Er wollte Handwerksmeister werden und die Nachfolge seines Vaters Albert antreten, eines Installateurs in Dortmund. Er ist der Einberufung um sechs Monate zuvorgekommen, um die Waffengattung wählen und sich weiterqualifizieren zu können, Heer und Luftwaffe wollte er vermeiden. Der Krieg interessiert ihn nicht. Er möchte sich als Mechaniker und Elektriker vervollkommnen und nach Westfalen zurückkehren, um seinen Betrieb zu übernehmen.

Heinz Stahlschmidt ist 21 Jahre alt und rettet seine Haut. Nach einer Verletzung, einer Verbrennung durch Dieselöl, wird er ins Lazarett eingewiesen. Er verweigert die Beförderung, die ihn an die vorderste Front zurückgebracht hätte und verlangt eine Versetzung an Land. Die Schiffsunglücke haben bleibende Lungenschäden hinterlassen. Er wird in den Süden geschickt. Im April 1941 kommt er in Bordeaux an.

In Bassens stößt er zu den etwa hundert deutschen Marinesoldaten, die den Nachschub für die deutschen Schiffe besorgen. Er spricht etwas französisch, weiß nach dem Weg zu fragen und kennt die Höflichkeitsformeln. Heinz ist kontaktfreudig. Aber in den Baracken der Kriegsmarine hat er keine Kameraden: „Der Kamerad reicht dir im Wasser die Hand, die andern sind Kumpels.“

Heinz lebt neben ihnen her. Die deutschen Soldaten finden, daß er sich zur einheimischen Bevölkerung anders verhält als sie. Der Unteroffizier und Mechaniker Stahlschmidt sei toleranter. Sie nennen ihn „den kleinen Franzosen“. Später versetzt ihn der Oberleutnant Kuns nach Roques-de Thau (1), in einen ehemaligen Steinbruch, wo deutsche Spezialisten in geheimer Mission Unterwasserminen, vor allem die Schachtmine der besonders schlagkräftigen Modellreihe A, testen.

Im April 1943 wird Heinz Waffenmeister in der Rue du Couvent 3, wo das Waffenkommando der Marine seinen Sitz hat, von hier aus überwacht er die Waffenlager A, B, C und D, in denen Munition aufbewahrt wird.

In Bordeaux leitet er eine Gruppe von französischen Hafenarbeitern, die für Wartungsarbeiten gebraucht werden. Sie machen gemeinsam Mittagspause und trinken im „L'Ancre d'or“, am Quai des Queyries. Mit ihnen kauft er auch die Lokalzeitung Petite Gironde (2) und sein Päckchen Gauloises.

Auf den Quais trifft er Jean Ducasse, genannt Cofino, Hafenarbeiter im Handelshaus Worms. Sie plaudern oft. Ende 43 schlägt der Wind um. Jean Ducasse und die anderen spüren, daß Heinz die Gewalt und die Konflikte ablehnt. Er zieht die gütliche Einigung den Aggressionen vor. Das ist nicht sein Krieg. Aber er steckt mittendrin.

Kuhnemann, der Hafenkommandant, hat Ende Juli einen Befehl erteilt, der bis zu ihm gelangt ist: Es soll ein Plan ausgearbeitet werden, um die Hafenanlagen und die Quais von Bordeaux in die Luft zu sprengen. Seit März 1944 bringt die deutsche Armee besonders an den Kränen des Hafens Sprengladungen an, darunter einige 800-Kilo-Bomben. Heinz' Aufgabe ist es, den deutschen Sabotageplan vorzubereiten, der zwischen dem Lauf des Médoc und den Schlachthäusern alle fünfzig Meter eine Sprengung vorsieht. Zehn Kilometer Hafenquais dies- und jenseits der Pont de Pierre, die unter Kontrolle der Wehrmacht steht, sind zur Zerstörung verdammt. Etwa dreißig Männer sollen den Plan zu gegebener Zeit ausführen.

Der Befehl verstört Heinz Stahlschmidt. Er versteht nichts mehr. In der Normandie sind schon die Alliierten gelandet. Die Zerstörung des Port de la Lune von Bordeaux würde am Kriegsausgang nichts ändern. Man spricht von bis zu 3.000 Toten durch die Hafensprengung. Ein Wahnsinn. Sein Befehl lautet, das Sprengmaterial aus Roques-de- Thau und Saint-Médard in die Lagerhallen von Bordeaux zu schaffen. Er schlägt vor, über 4.000 Zünder, Munition, Lunten und Sprengköpfe, ohne die der Plan unausführbar wäre, im Bunker in der Rue Raze unterzubringen.

Niemand kennt das Datum. Aber Heinz hat Angst, daß die Zerstörung noch vor dem August- Ende – vielleicht am 27. – stattfinden soll. Der Hafenarbeiter Jean Ducasse hört davon. Am 11. spricht er Heinz an: „Ich kenne jemand, der gerne mit Ihnen über Munition diskutieren würde. Akzeptieren Sie?“ Heinz willigt ein. „Machen Sie einen Termin. Ich gehe hin.“

Am 14. August begibt sich Heinz in Zivil und nicht ohne Schuldgefühle nach Le Bouscat, einen Vorort von Bordeaux. In der Rue Calypso 58 trifft er den pensionierten Schuldirektor Willam Dupuy und erklärt ihm: „Ich gebe Ihnen den Sprengplan für den Hafen. Ich lege die Sprengleitungen, um den Bunker in der Rue Raze hochgehen zu lassen, und Sie suchen einen Mann, der die Aktion ausführt.“

Heinz hat sich entschieden. Er will das Desaster verhindern, ohne selbst direkt aktiv zu werden. Er will sich mit seinen Männern zurückziehen, mit ruhigem Gewissen nach Dortmund gehen, um eines Tages nach Bordeaux zurückzukommen und den Hafen wiederzusehen ...

Bis zum 22. August besucht er Dupuy viermal. Dabei nimmt Stahlschmidt erhebliche Risiken in Kauf. Seine Dienststelle schläft nicht. Man weiß, daß er draußen ißt und mit den Franzosen spricht. Er steht unter Verdacht. Das Doppelspiel ist zermürbend, zumal Dupuy ihm gegenüber beharrlich schweigt. Cofino, ein ehemaliger Legionär, der zunächst 100.000 Franc verlangt hat, um die Aktion auszuführen, tritt von seiner Zusage endgültig zurück. Sieben Tage vergehen. Am 21. August überstürzen sich die Ereignisse. Das Gerücht kursiert, Stahlschmidt solle als Waffenmeister an Bord eines U-Boots versetzt werden, das in Royan liegt. Am selben Tag wird die noch nicht nach Bordeaux verbrachte Munition in Roque-de- Thau zerstört. Auch in Saint-Médard-en-Jalles und Sainte-Hélène bleibt nichts mehr. Der Bunker in der Rue Raze ist nun der Schlüssel der Ereignisse.

Es ist 11 Uhr morgens am 22. August. Bei seinem vierten Besuch bei Dupuy begreift Heinz, daß der Schuldirektor niemanden gefunden hat. Nicht einen einzigen Freiwilligen. Drückebergerei. Der Hafen von Bordeaux wird in die Luft fliegen, Tausende werden sterben, und der Mann ihm gegenüber schweigt. So ist das also.

Nach so vielen unnützen Gesprächen wird der Bunker in der Rue Raze ganz allein zu Stahlschmidts Sache. William Dupuy bietet ihm aus Verlegenheit die Freiheit und die nachträgliche Deckung durch die Résistance an, falls er sich entschließt, alleine zu handeln. Er überreicht ihm ein Papier mit der Unterschrift Segurs, das dieses Angebot bestätigt. Ein paar gekritzelte Worte ohne Briefkopf und Stempel. Das ist die ganze Antwort.

In einer Mischung aus Wut und Verblüffung stellt Heinz Fragen. Warum haben sie innerhalb einer Woche niemanden gefunden? Er verlangt, daß man ihm einen Nachschlüssel für den Bunker in der Rue Raze herstellt. So wird er wenigstens in den Bunker kommen, ohne den wahren Schlüssel vom Schlüsselbrett abnehmen zu müssen und den Hausmeister mißtrauisch zu machen. Heinz geht, niedergeschmettert. Im Juni 1937 hatte er ähnlich empfunden, als man seinen Vater tot in einer Dortmunder Straße fand. Wahrscheinlich war er von einem Auto niedergefahren worden. Sein Vater, der niemals etwas mit Politik zu tun hatte. Hier stößt Heinz auf dieselbe unverständliche Brutalität, dieselbe Mauer. Er begibt sich in eine Einsamkeit, die er in wenigen Worten zusammenfaßt: „Über dem Gehorsam steht das Gewissen.“

Um sechs Uhr nachmittags entläßt Stahlschmidt seine Hafenarbeiter, auch die Wachposten vor dem Bunker versucht er zu entfernen. Denn die Explosion wird Leben kosten. Kurz vor acht betritt er den Bunker A. Der von Dupuy um 17 Uhr gelieferte Nachschlüssel hatte nicht funktioniert. Zwei Minuten braucht er, um das Feuer zu legen. Er verläßt den Bunker, gibt den Schlüssel zurück, nimmt das Fahrrad und durchquert das Weinhandelsviertel Les Chartrons.

Um 20.15 Uhr befindet er sich im Park, als ein fürchterliches Feuer den Himmel von Bordeaux zerreißt. Etwa fünfzehn Tote werden unter den Soldaten gezählt. Von ferne hört man an diesem milden Sommerabend das Echo der Erschießungen. Panik ergreift die Quais und Brücken. Die Deutschen sind überzeugt, von der Résistance angegriffen worden zu sein. Heinz' Fahrradkette springt ab. Er muß die Stadt bei Ausgangssperre zu Fuß durchqueren, bis er zu den Boulevards kommt. In der Rue Calypso, bei den Dupuys, steht ein Bett für ihn bereit, Madame Dupuy verbrennt seine Uniform.

Von nun an ist Heinz Stahlschmidt Deserteur. Polizei und Gestapo suchen ihn, um ihn hinzurichten. Am nächsten Morgen kommt, wie verabredet, ein Auto, um ihn abzuholen. Zwei Männer sitzen drin: André Moga und Guy Casenave, sie bringen ihn zum Cours de l'Yser 100, wo ihn Marceline Moga, die Mutter von Fredo, Fonfon, Dédé und Bambi erwartet. Es handelt sich um die bekannte Rugby-Familie aus Bègles, die später die Leibwache von Jacques Chaban-Delmas (3) stellen wird.

Die Fleischerei am Cours de l'Yser ist ein gastfreundliches Haus. Die jungen Sportler kommen hierher, um zu essen. Sie ist auch der Sitz der Widerstandsgruppe „Forces francaises de l'interieur“ (FFI) im Département Gironde, die vom Hauptmann Saldou geleitet wird. Saldou: das ist Segur. Heinz sieht ihn hier an diesem 23. August 1944 zum ersten Mal. Er gehört jetzt zu den FFI, also zu Saldou.

Heinz Stahlschmidt wird Gegenstand allgemeiner Neugierde. Man kommt vorbei, um diesem stillen und höflichen Soldaten ohne Armee die Hand zu drücken. Man zeigt sich mit ihm in der Stadt. Die Mogas unterstützen ihn, Alphonse (Fonfon) wird sein Freund, Marceline protegiert ihn. Sie sieht in ihm einen aufrechten, aufmerksamen Mann, der zutiefst von einer gerechten Sache durchdrungen ist. Sie verstehen sich. „Wir werden Sie Henri nennen, Sie sind bei uns zu Hause, solange Sie wollen“, sagt sie zu ihm (4).

Zweimal wird sie ihm das Leben retten, als eine andere Résistance- Gruppe am Cours de l'Yser auftaucht, um ihn mitzunehmen. Warum will man diesen deutschen Soldaten töten, den eine andere Résistance-Gruppe beschützt? Heinz wird in den Strudel der Libération gezogen. Freiwillig stellt er seine Kenntnisse als Waffenmeister in den Dienst der Pioniere der 18. Militärregion, entschärft alle Arten von Waffen und wird Lehrer im Minenräumkommando in der Gironde.

Im September 1944 nähern sich ihm in Eysines, einer Vorstadt von Bordeaux, zwei Männer, die perfekt französisch sprechen. Ein seltsames Gespräch bahnt sich an. Sie möchten, daß er ein Papier unterzeichnet, in dem er zugibt, dem amerikanischen Geheimdienst angehört zu haben. Die wesentliche Rolle, die Heinz bei der Rettung der Hafenanlagen gespielt hat, könnte den Amerikanern bei der künftigen kommerziellen Ausbeutung des Hafens nutzen, glauben die Agenten.

Einen zweiten Angriff starten die Agenten in der Rue Croix-de- Seguey, wo Heinz mit seiner künftigen Ehefrau Henriette lebt. Er hat sie 1942 in Roques-de-Thau kennengelernt und später zufällig in Bordeaux wiedergetroffen. Die Agenten machen jetzt noch mehr Druck. Sie bieten ihm 100.000 Dollar und die amerikanische Staatsbürgerschaft. Heinz lehnt ab.

In Paris trifft er mit André Moga den General Chaban-Delmas. Auch seinen Vorschlag, mit den französischen Truppen an die elsässische Front zu gehen, lehnt er ab.

Im Oktober 1944 teilt Kommandant Saldou ihm mit, daß seine Mutter Alma aus Rache erschossen wurde und daß sein Bruder in Deutschland im Gefängnis steckt. Heinz bricht zusammen.

Am 7. März 1946 spricht er bei den Amerikanern in Baden-Baden vor. Sie raten ihm: „Da Sie sich so gut mit den Franzosen verstehen, bleiben Sie bei ihnen. Wenn Sie in die britische Zone gehen, werden Sie nur als befreiter Kriegsgefangener gelten, weiter nichts.“

Heinz geht nach Bordeaux zurück. Dort erwirbt er 1947 unter einem neuen Namen – Henri S. – die französische Staatsbürgerschaft, um dann, am 1. April 1947, bei der Waldfeuerwehr der Gironde anzuheuern, die von dem einstigen Résistance-Kommandanten Oberstleutnant Saldou geleitet wird.

Vor der Départementskammer für die Anerkennung der in den FFI erworbenen Dienstgrade gibt Heinz Stahlschmidt wahrheitsgemäß an: „Ich habe den Hauptmann Saldou erst am 23. August 1944 kennengelernt.“ Im Hauptquartier der Feuerwehr setzt Saldou noch eine Ergänzung zu dieser Angabe hinzu: „Aber ich habe schon am 22. August 1944 gegen 17 Uhr einen mit Segur (Saldou) gezeichneten Befehl erhalten, der mich unter den Schutz der FFI in der Bordeaux-Region stellte. Von diesem Augenblick an erhiehlt ich die Deckung, um die ich gebeten hatte. Dieser Befehl wurde am 25. September 1944 durch ein offizielles Schreiben des Kommandanten Saldou und des Hauptquartiers der 18. Militärregion, 2. Büro, bestätigt.“

Die Mitglieder der Kammer laden Heinz am 18. November 1947 mit der Frage vor, warum diese Zeilen hinzugefügt wurden. Er antwortet, daß dies der Wunsch seines Vorgesetzten gewesen sei. Am 1. August 1952 beantragt er seine Versetzung zum Pumpenschiff, das gemeinsam vom Hafen, der Stadt Bordeaux und dem Département verwaltet wird und natürlich ebenfalls dem Befehl des Obersten Saldou untersteht.

Heinz bittet keineswegs um einen Gefallen dafür, daß er 1944 und 45 sein Leben für die Stadt Bordeaux riskiert hat. Seine Kenntnisse in Bootsmechanik, seine Fähigkeiten, sein beruflicher Ernst sind es, die ihn für eine Beförderung qualifizieren. Der Weg scheint vorgezeichnet: erst Unteroffizier, dann Leutnant der Feuerwehr.

Vom 1. Februar 1957 bis zum 13. November 1969, dem Tag seiner Pensionierung, versieht Heinz seinen Dienst als Kapitän. Aber er erhält niemals den entsprechenden Dienstgrad. In 18 Dienstjahren bekommt er gerade fünf Punkte für die Rentenberechnung. Da er nicht in der Kaserne wohnt, muß er 48 Stunden auf dem Boot verbringen, um 24 Stunden frei zu bekommen. Seine Dienstzeiten werden niemals festgelegt. 480 Stunden im Monat steht er zur Verfügung. Seine wiederholten Anträge an seine Vorgesetzten und den Bürgermeister von Bordeaux bleiben folgenlos.

Einen Oberfeldwebel Henri S. wird es niemals geben. Weder in der glorreichen Geschichte der Résistance noch in den Beförderungsplänen. Er schickt seine Akte an Giscard, später an Mitterrand. Verschiedene Ministerien antworten ihm. Maurice Plantier, damals Minister für die Kriegsveteranen, schickt ihm folgende Erklärung: „Der nationale Ausschuß für den ,Ausweis des freiwilligen Widerstandskämpfers‘ ist nach eingehender Untersuchung Ihrer Akte zu dem Ergebnis gelangt, daß Sie die durch die geltende Gesetzgebung festgelegte wesentliche Bedingung für den Erhalt dieses Ausweises, nämlich den Nachweis einer Widerstandsaktivität mindestens neunzig Tage vor dem 6. Juni 1944, nicht erfüllen.“

Keine Karte, keine Pension, kein Orden, keine Einladung zu den Gedenkfeierlichkeiten – die er übrigens ablehnen würde – und eine minimale Rente für seine Feuerwehrzeit. Was ist passiert? Was hat Heinz am 22. August 1944 falsch gemacht? Seit Jahren sammelt er Material über alle Etappen seines Schicksals, um nicht unterzugehen. Was er über seine eigene Geschichte entdeckt, verleugnet und beleidigt ihn. Die Berichte des „Centre national de la Résistance Jean Moulin“ wimmeln von Auslassungen, Anspielungen, Änderungen von Daten oder schlichten Lügen. Er liest: „So bleibt der Stadt Bordeaux und der Regierung nur noch, den anonymen Franzosen in würdiger Weise zu danken.

Der Hafenarbeiter Jean Ducasse hat bereits eine Silbermedaille der Stadt erhalten. Sie werden den Chef seiner Widerstandsgruppe ebensowenig vergessen. Dem Schuldirektor Monsieur Dupuy und dem Widerstand von Bordeaux läßt die Regierung Glückwünsche und Belohnungen zukommen, die sie als „die wahren Retter des Hafens von Bordeaux verdienen. 10. September 1945.“ Sogar der Schlosser, der den falschen – und nicht passenden – Schlüssel herstellte, erhält einen Orden.

Ein anderes Zitat: „Die Résistance von Bordeaux (General Moraglia) gab den Befehl. Er wurde wie vorgesehen von Heinz Stahlschmidt ausgeführt. 15. September 1945.“ Ein Vortrag des Historikers: „Diesem Mann (Stahlschmidt), der Verbindungen in Bordeaux hat, ist die Idee gekommen, seine Zukunft zu sichern, indem er für Bordeaux oder die Résistance eine Aktion ausführte, aus der er Nutzen und Anerkennung ziehen konnte. 24. April 1948.“

Heinz entdeckt ihm unbekannte Namen auf nicht datierten Dokumenten. Der Bunker der Rue Raze wird zur Legende. Der Historiker Robert Aron schreibt in seiner Erzählung „Comment Bordeaux ne fut pas détruite“ (Wie Bordeaux der Zerstörung entging): „Viel Lärm um nichts. So im Wortsinne die Bilanz der Affäre Stahlschmidt (...), eines gefühligen, lärmempfindlichen Feldwebels und Waffenmeisters, der für Schießpulver wenig übrig hat und obendrein fürchtet, seine Freiheit oder sein Leben in diesem Abenteuer zu verlieren.“

Oft wird Heinz in diesen Erzählungen als ein nervöses und ängstliches Wesen beschrieben. Robert Aron schreibt, daß er in Le Bouscat in Ohnmacht fiel. Diese Lüge wird wie alle anderen immer wieder verbreitet. Die Historiker und die, die sich dafür halten, geben sich mit einer immer wieder anders aufbereiteten einzigen Version der Geschichte zufrieden. Die Hauptperson der Geschichte aber lebt in Bordeaux – und niemand befragt sie.

André Moga ist am 22. Dezember 1992 gestorben. Vier Tage, bevor er ins Krankenhaus eingewiesen wurde, am 8. Dezember, war er bei Heinz. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und wiederholte ihm einmal mehr: „Wir wissen sehr genau, daß du, und nur du, den Hafen gerettet hast.“ Die Affäre der Rue Raze verfolgte Moga, der immer noch nach einem Gegenmittel gegen diese unglaubliche Ungerechtigkeit suchte. Der große, schon vom Tod gezeichnete Widerstandschef aus Bègles schien zu fürchten, daß er verstummen würde, ohne Heinz rehabilitieren zu können, seinen Freund seit dem Sommer 1944. Er sagte es mit halb erstickter Stimme: „Heinz war unser fünfter Bruder. Er war sich bewußt, daß er eine gerechte Sache verfochten hatte, er hatte eine vornehme Denkungsart. Er war ein entschlossener Mann, niemals auf seinen Vorteil aus. Ihn interessierten weder Titel noch Geld. Eines Tages hat er sich auf die Seite der Menschlichkeit gestellt, und beide Seiten stießen ihn zurück. Für mich war er der erste Widerstandskämpfer.“

Heinz' Bruder ist niemals ins Gefängnis gesteckt worden, seine Mutter wurde nicht erschossen, wie es ihm der gnadenlose Hauptmann Saldou 1944 berichtet hatte. Alma Stahlschmidt ist 1972 gestorben. Er hat sie niemals wiedergesehen. Sein Leben lang hat er jeden Abend für seine Mutter, die ihn maßlos liebte gebetet, um sich bei ihr zu entschuldigen, daß er es zu nichts gebracht habe, daß er unfähig sei, sie nach Frankreich einzuladen, daß er ihr nicht das Doppelbild des deutschen Deserteurs und des in Bordeaux verachteten Mannes bieten wolle. Hätte er ihr gestehen können, daß er die meisten Fotos seines Lebens verbrannt hat?

Heinz Stahlschmidt ist im Sommer 1944 bei der Explosion des Bunkers in der Rue Raze nicht ums Leben gekommen. Der junge Mann aus Dortmund mit dem kraftvollen blauen Blick ist von der Geschichte zermalmt worden. Die Gewissenstat eines deutschen Soldaten, der am 22. August 1944 ganz alleine handelte, ist vereinnahmt worden – zu groß war das Bedürfnis einzelner und der ganzen französischen Gesellschaft, sich die Verdienste des Widerstands im nachhinein selbst an die Brust zu heften. Der Soldat Heinz Stahlschmidt ist lebendig begraben worden. Um ihn hat sich eine undurchdringliche Mauer des Schweigens aufgerichtet, als sei es nach so langen Jahren unmöglich geworden, diesem von seiner Vergangenheit zerrissenen Mann ins Gesicht zu blicken, ohne eine tiefe Scham zu empfinden.

Henri existiert nicht.

(4) Er wird bis Weihnachten 1944 bei den Mogas wohnen.

Aus dem Französischen von

Thierry Chervel

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