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Tataren bei Wünsdorf

Der Abzug der GUS-Truppen bringt ein weiter zurückliegendes Kapitel Militärgeschichte zum Vorschein: Islamische Kriegsgefangene wurden im Süden Berlins „betreut“ und beigesetzt  ■ Von Margot Kahleyss

Wer sich im Süden Berlins bei Wünsdorf auf den Weg ins Unterholz macht, kann Geschichte erleben: Völlig unbeachtet liegen dort die verfallenen Überreste eines Friedhofs aus dem Ersten Weltkrieg. Dabei handelt es sich um einmalige Zeugnisse aus unserer jüngsten Geschichte: Hier wurden vor allem muslimische Kriegsgefangene beigesetzt.

Ihr damaliges Leben in zwei Lagern bei Zossen und Wünsdorf ist durch Fotografien dokumentiert, die sich im Museum für Völkerkunde befinden. Sie zeigen unter anderen Tataren, Nord- und Westafrikaner, Inder, Hindus und Sikhs – insgesamt während des ganzen Krieges rund 23.000 Gefangene, die auf das „Weinberglager“ und das „Halbmondlager“ aufgeteilt waren.

Letzteres galt als „Sonderlager“; die dort internierten muslimischen Gefangenen aus Nord- und Westafrika sowie aus Indien, also den Kolonien Englands und Frankreichs, wurden als „privilegiert“ betrachtet: Die damalige deutsche Kolonialpolitik und kriegerische Praxis reflektierend, war das Ziel eine Indoktrination dieser Kriegsgefangenen zuungunsten ihrer Kolonialherren (nachdem das Osmanische Reich gegen die Mächte der Entente – England, Frankreich und Rußland – in den Krieg eingetreten war).

Die Gefangenen sollten schließlich auf einen erneuten Kriegseinsatz als Mitstreiter im mit Deutschland verbündeten osmanischen Heer vorbereitet und gegen die Truppen ihrer Kolonialherren eingesetzt werden. Die Lager waren gewissermaßen ein Kristallisationspunkt der europäischen Haltung dem Osmanischen Reich, der islamischen Welt gegenüber.

Auf den Fotografien ist es auch zunächst die vermeintliche kulturell-religiöse Freiheit im Lager, die erstaunt: die Ausübung religiöser Zeremonien im Beisein von deutschen Militärs (die offensichtlich als Ehrengäste anwesend waren) oder die anscheinend freie Betätigung auf künstlerischem Gebiet; ganz abgesehen von sportlich- spielerischen Aktivitäten jeder Art.

Die Propaganda wurde koordiniert und getragen von der „Nachrichtenstelle für den Orient“, die 1914 gegründet worden war und dem Auswärtigen Amt sowie der Politischen Sektion des Stellvertretenden Generalstabschefs der Armee unterstand. Der Kampf gegen die Kolonialmächte wurde durch muslimische Propagandisten, vor allem aus arabischen Ländern, als „heilige Pflicht“ angemahnt. Zu diesem Zwecke wurden auch kostenlose Lagerzeitungen in den jeweiligen Sprachen der Gefangenen erstellt. Begleitend fand eine intensive religiöse „Betreuung“ statt, die sich 1915 sogar im Bau einer ersten Moschee zu kultischen Zwecken auf deutschem Boden niederschlug.

Dennoch war schließlich nur ein kleiner Teil dieser Gefangenen zu einem Frontwechsel bereit. Aber auch sie wurden nicht wieder in den Kriegseinsatz geschickt, und das mit Grund.

Mutet das Vorhaben, mit den übergelaufenen muslimischen Kriegsgefangenen in einem erneuten Einsatz diesmal im osmanischen Heer tatsächlich das Kriegsgeschehen beeinflussen zu können, politisch naiv an, so kann der Nutzen der Gesamttaktik nur ein propagandistischer gewesen sein: Mit der Errichtung eines Sonderlagers und der von dort nach außen getragenen Information der „Wohltaten“ der Deutschen war wohl eine psychologische Wirkung beabsichtigt. Auf der Basis des Strebens nach Selbständigkeit vieler in Afrika und Asien entstandenen Nationalbewegungen und unter Ausnutzung des Panislamismus sollte nach außen hin eine Stärkung der Mittelmächte suggeriert werden. Die Demonstration guter Beziehungen zwischen Deutschland und islamischen Ländern zielte auf eine Verunsicherung Englands und Frankreichs gegenüber ihren Kolonien.

Knapp 1.000 in diesen Lagern gestorbene Kriegsgefangene aller Nationen und Religionen wurden auf dem Friedhof des schon 1911 geräumten Dorfes Zehrensdorf, drei Kilometer östlich von Wünsdorf mitten in dem dortigen Truppenübungsplatz gelegen, beigesetzt. Muslime, Hindus, Sikhs und Christen wurden hier nebeneinander begraben.

Inschriften in englisch, arabisch, urdu, hindi und anderen Sprachen auf einzelnen national-religiösen Gedenksteinen wurden mit deutschen ergänzt. Unter Texten aus dem Koran steht beispielsweise: „Grabstätte mohammedanischer Kasan-Tataren, die kriegsgefangen unter der Regierung Wilhelm II. starben“; „Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist Gottes Prophet“; „Es ist ein Gott – er ist der Sieger. Zur Erinnerung an die tapferen muslimischen Hindus und Sikhs, die geweiht waren, ihr Leben im großen Krieg für den König und ihr Land hinzugeben“.

In den dreißiger Jahren wurden offensichtlich die Überreste etlicher Kriegsgefangener ausgegraben und nach England beziehungsweise Frankreich überführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann dann der Verfall der gesamten Anlage – heute finden sich nur noch offengelassene Gräber und die Reste zerbrochener Grabsteine. Teilweise sind die Inschriften aber noch gut lesbar.

Da das Areal bisher zum Gebiet des Hauptquartiers der Westgruppe der GUS-Streitkräfte in Wünsdorf gehörte und bis jetzt von militärischem Übungsgelände umgeben war, war es bisher unzugänglich. Mit dem Abzug der Truppen bis Ende August bleibt zu hoffen, daß diese in ihrer Stille und in ihrem Verfall beeindruckende Begräbnisstätte nicht einem endgültigen Desinteresse preisgegeben wird.

Hinter ihrer historischen Aussagekraft stehen doch auch die Schicksale von Menschen aus anderen Kulturen; Menschen, die allein der damaligen europäischen Kriegs- und Kolonialpolitik wegen im märkischen Sand beigesetzt wurden.

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