: Der späte Beginn eines Frauenlebens
■ Serie: 100 Jahre Berliner Frauenbewegung (dritte Folge): Alice Salomon
Sie gilt als die „Begründerin des sozialen Frauenberufs“. Die Rolle, die sie in der deutschen Frauenbewegung gespielt hat, ist bis heute aber nur schwach in Erinnerung. So wird sie oft fälschlicherweise dem radikalen Flügel zugerechnet. Dabei prägte sie durch ihre Bindung der Frauenbewegung an soziale Arbeit vielmehr den Charakter der gemäßigten Mehrheitsströmung im Bund Deutscher Frauenvereine (BDF), die sich zwischen 1893 und 1914 unter dem Leitbegriff „organisierte Mütterlichkeit“ profilierte. An der Frage „Soll die Frauenbewegung gemeinnützige Arbeit leisten“ oder soll sie ausschließlich um Frauenrechte kämpfen, spaltete sich in den Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts die „bürgerliche“ Frauenbewegung. Eine wichtige Rolle spielten dabei die „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“, die 1893 zwar von Minna Cauer mitgegründet worden waren, deren radikales Selbstverständnis sie aber als gemeinnützige Frauenarbeit von der Frauenbewegung trennen wollte. Für Alice Salomon, die 1872 in eine jüdische Kaufmannsfamilie geboren wurde, bedeutete dieses Projekt nicht nur den Eintritt in die Frauenbewegung, sondern gar den Beginn ihres Lebens.
Sie gehörte als 21jährige zu den etwa 50 jungen Frauen, die 1893 dem Gründungsaufruf ins Berliner Rathaus gefolgt waren, nachdem sie viele Jahre mit in ihren Augen nutzlosen Beschäftigungen verbracht hatte, weil sie aus Standesgründen keinen Beruf erlernen durfte. In den folgenden Jahren arbeitete sie in einem Mädchenhort und gründete mit anderen zusammen ein Arbeiterinnenheim. Sie war bald die engste Vertraute der Leiterin Jeanette Schwerin, nach deren frühem Tod 1899 sie selbst zur Vorsitzenden der Mädchen- und Frauengruppen gewählt wurde. In dieser Funktion war sie als 29jährige das bei weitem jüngste Vorstandsmitglied des BDF, zuständig für die Arbeiterinnenfrage und die Idee des Mutterschutzes. Sie selbst war kinderlos und nicht verheiratet – wohl nicht ganz freiwillig, wie sie selbst andeutete. Neben ihrer frühen Selbstverpflichtung zur unablässigen Arbeit, die sie als ein Abtragen von Schuld gegenüber den ärmeren Klassen verstand, dürfte die intensive Bindung an ihre Mutter dafür verantwortlich gewesen sein, mit der sie bis zu deren Tod (1914) zusammenlebte.
Aus den Berliner „Gruppen“ entstand einerseits eine soziale weibliche Jugendbewegung, andererseits die erste Soziale Frauenschule, die sie 1908 in Berlin gründete und die heute „Fachhochschule für Sozialarbeit Alice Salomon“ heißt. Zwei Jahre vorher hatte sie noch nebenbei als eine der ersten Frauen promoviert. Ihr Dissertationsthema: Die Ursachen der Lohnungleichheit von Männern und Frauen.
Alice Salomon war unter der jüngeren BDF-Prominenz um 1900 die weltoffenste. Sie hatte intensive Verbindungen und Freundschaften mit Feministinnen insbesondere aus den angelsächsischen Ländern. Seit dem Ersten Weltkrieg bekam sie deshalb Probleme mit der BDF-Führung, die sich 1920 so zuspitzten, daß sie fortan nicht mehr im Vorstand vertreten war. 1925 gründete sie die Deutsche Akademie für Soziale und Pädagogische Frauenarbeit, eine einzigartige Frauenhochschule, die sozialwissenschaftliche Forschung und soziale Praxis miteinander verband. Sie mußte 1933 geschlossen werden.
Salomon wurde 1937 von den Nazis zur Emigration gezwungen. Obwohl ihr eindrucksvolles Lebenswerk zu diesem Zeitpunkt schon zerstört war, wäre sie wohl nicht freiwillig ausgewandert. Wie sehr sie sich im Konsens mit der nicht zuletzt in der Frauenbewegung dominanten Kultur fühlte, zeigt ihr Übertritt zum protestantischen Christentum nach dem Tod der Mutter. Obwohl sie den Krieg ablehnte, übernahm sie 1914 eine hohe Funktion im Nationalen Frauendienst und als Kriegsamtsleiterin. In der amerikanischen Emigration wurde sie deutsch-kritisch. Sie starb 1948 vereinsamt in New York. Irene Stoehr
wird morgen fortgesetzt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen