: Bundestag ist längst gewählt
■ CDU und SPD haben fast alle Direktkandidaten auf der Landesliste abgesichert Der Wähler hat kaum Einfluß auf die personelle Zusammensetzung des Bundestages
Der Wahlkampf in Berlin hat gerade begonnen. Weil sich Bundestagskandidat und Jugendsenator Thomas Krüger auf seinem SPD- Plakat nackt zeigt, erlangte er sogar bundesweite Aufmerksamkeit. Faktisch kann er sich die Werbung schenken: Kein einziger Berliner braucht seine Stimme für den Direktkandidaten im Wahlkreis Lichtenberg/Friedrichshain abzugeben – der SPD-Politiker kommt auf jeden Fall in den Bundestag. Dafür hat seine Partei gesorgt, die ihn auf Platz drei der Landesliste abgesichert hat – wie die Berliner CDU darf die SPD mit mindestens rund 12 Kandidaten rechnen, die sie in die kommende Legislaturperiode in den Bundestag entsendet. Und damit der Wähler das Personenkarussell nicht ins Drehen bringen kann, haben die Zentralen der großen Parteien fast alle vorderen Kandidaten der Landesliste mit den Direktkandidaturen in den 13 Wahlkreisen versorgt.
Daß der Wähler mehr Einfluß auf die Zusammensetzung von Volksvertretungen haben könnte, zeigen Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg und die Schweiz bei Kommunal- und Landtagswahlen. Auf Kommunalebene etwa können die Baden-Württemberger durch Häufen ihrer Stimmen auf bestimmte Kandidaten (Kumulieren) und durch Hinzuschreiben anderer Kandidaten (Panaschieren) ihre eigenen Listen zusammenstellen und haben so Einfluß auf die personelle Zusammensetzung der Gemeinderäte.
Diese Möglichkeit gibt es für den Bundestag nicht. Wenn große Parteien, deren Kandidaten im Gegensatz zu denen der kleinen Parteien reelle Chancen haben, ein Direktmandat zu gewinnen, alle Direktkandidaten auf der Landesliste absichern, beschneiden sie das Recht des Wählers, Abgeordnete direkt zu wählen. Der Wähler kann dann nur noch wählen, wer ohnehin längst gewählt ist.
Immerhin gibt es in der SPD zwei Kandidaten, die nur direkt kandidieren und deshalb die Plätze der Landesliste jeweils um eine Stelle nach hinten rutschen lassen könnten, sollten sie ein Mandat holen: Siegfried Scheffler in Köpenick/Treptow und Konrad Elmer in Hohenschönhausen/Pankow/ Weißensee. Sonst gibt es noch ganze vier Wahlkreise, in denen es spannend wird: In Kreuzberg/ Schöneberg, Marzahn/Hellersdorf, Mitte/Prenzlauer Berg und Lichtenberg/Friedrichshain treten Bewerber an, die gute Chancen auf ein Direktmandat haben und möglicherweise nur deshalb in den Bundestag kommen werden. Dabei handelt es sich um Christian Ströbele von Bündnis 90/ Die Grünen, um den Chef der PDS-Bundestagsgruppe Gregor Gysi, den Schriftsteller Stefan Heym und die Wirtschaftsministerin der ehemaligen Modrow-Regierung Christa Luft (beide für die PDS).
Daß der Eifer des Wählers um so größer sein werde, „als der Wähler Einfluß auf die Auswahl der Kandidaten hat und unmittelbare Einwirkung auf die Wahl bestimmter Personen“, stellte schon 1955 die Wahlrechtskommission des Bundesinnenministers fest. Wenn sich heute Politiker und Regierende über Politikverdrossenheit beklagen, haben sie zum Teil selbst Schuld.
In der neuesten Umfrage des Berliner Markt- und Meinungsforschungsinstitutes „concret“ bemängelt die Mehrheit der 844 Befragten aus vier Ostberliner Bezirken, „daß sie auf bundespolitische Entscheidungen keinen Einfluß nehmen können“. 86 Prozent wollen mehr Abgeordnete direkt wählen können. Doch eine Änderung des Wahlsystems hält CDU-Bundestagskandidat Jochen Feilke (Kreuzberg/Schöneberg) für unsinnig: „In der Stadt kennt doch nur ein Bruchteil der Wähler die Direktkandidaten.“
Nacktwahlkämpfer Krüger dagegen steht einer Reform des Wahlsystems selbstredend „sehr aufgeschlossen“ gegenüber. Die großen Parteien sollten ihre Listen für Nichtparteimitglieder öffnen. Im Bundesprogramm der SPD bleibt eine Reform des Wahlsystems allerdings unerwähnt. Diese Reform hat in der Vergangenheit unter anderem Carola von Braun, ehemalige FDP-Fraktionschefin, angemahnt. Im Bundesland Bayern habe sich gezeigt, daß sich der Frauenanteil im Landtag erhöht habe. Von Braun steht im Oktober nicht zur Wahl: Sie hat sich aus der Politik zurückgezogen. Dirk Wildt
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