piwik no script img

Belgien kann nicht vergessen

Vor 50 Jahren wurde das Königreich von der deutschen Besatzung befreit, Kollaborateure anschließend rigoros bestraft / Heute streiten sich Flamen und Wallonen um eine Amnestie  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Wenn Brüssel heute den 50. Jahrestag der Befreiung von der deutschen Besatzung feiert, dann ist das, anders als in Frankreich, kein Fest des nationalen Überschwangs. Die belgische Gesellschaft müht sich mit einer Vergangenheit, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Seit Tagen schwelt wieder der Streit zwischen Flamen und Wallonen um eine Amnestie.

Noch immer sind Hunderten von Belgiern die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt, weil sie vor einem halben Jahrhundert mit den deutschen Besatzern kollaboriert hatten. Sie dürfen nicht wählen, haben keinen Anspruch auf Pensionen oder eine Reihe anderer Sozialleistungen, und ein paar Dutzend müssen im Exil bleiben. Sie dürfen Belgien noch immer nicht betreten.

In keinem anderen westlichen Land wurde die Zusammenarbeit mit den Nazis so rigoros verfolgt wie in Belgien. Nach dem 3. September 1944 mußten sich 450.000 Menschen wegen Kollaboration vor Gericht verantworten. Das war nahezu jeder zehnte Belgier. 50.000 wurden schließlich verurteilt, 2.340 zu lebenslanger Haft, 2.940 zum Tod. 242 Todesurteile wurden vollstreckt.

Vor allem flämische Gruppen fordern einen Schlußstrich, eine Generalamnestie, wie sie Frankreich beispielsweise schon in den fünfziger Jahren gemacht hat. Und es sind vor allem die französischsprachigen Parteien und Veteranenverbände, die dagegen protestieren. Eine Amnestie wäre eine Verhöhnung der Opfer, sagen sie.

So wie es in beiden Landesteilen Widerstandskämpfer gab – alle Zeitungen erinnern in diesen Tagen an ihre Helden –, so fanden die Nazis auch in beiden Landesteilen bereitwillige Helfer. Der hemmungsloseste Hitlerverehrer Belgiens war ein Wallone, Leon Degrelle, Anführer der kirchennahen Rexistenpartei. Die wallonische SS-Division hatte nicht weniger Zulauf von Freiwilligen als die flämische.

Doch der Haß der Wallonen auf die flämischen Kollaborateure war damals wie heute größer, weil sich die flämische Nazi-Ideologie vor allem gegen die französischsprachige Vorherrschaft im Lande richtete. Bis 1935 war es in weiten Bereichen des öffentlichen Lebens verboten, flämisch zu sprechen, die gesamte Verwaltung des Landes war weitgehend wallonisch besetzt. Die Tiraden der flämischen Nationalsozialisten, die „Belgie barst“, auf ihren Fahnen stehen hatten, „Belgien verrecke“, und die von einem großniederländischen Reich träumten, fielen auf einen Boden, der durch die Schikanen der wallonischen Verwaltung aufgeweicht war.

Nach dem Krieg wurden von den Flamen doppelt so viele wegen Kollaboration verurteilt wie von den Wallonen. Doch dazu hat auch beigetragen, daß die Richter fast ausschließlich Wallonen waren, die sich auf diese Weise an den Flamen rächen und die eigene Mitschuld verdrängen wollten. Die Justiz war der einzige staatliche Apparat, der unter der deutschen Besatzung unverändert weiterarbeitete und sich zwangsläufig arrangieren mußte.

Bis heute weigern sich vor allem wallonische Veteranenverbände, die Kollaboration als belgisches und nicht nur als überwiegend flämisches Problem zu sehen. Daß es die flämischen Rechtsradikalen vom Vlams Blok sind, die die Amnestie am lautesten fordern, macht die verfahrene Diskussion nicht einfacher. Im Grunde geht es noch um 600 bis 800 Menschen, die von den juristischen Folgen ihrer Zusammenarbeit mit den Nazis betroffen sind.

Aber die Diskussion um Amnestie und Kollaboration verhindert, daß die Besatzungszeit als heroische Zeit des Widerstandes verklärt wird. Die Sonderbeilagen in belgischen Zeitungen erinnern auch an das Schicksal der Juden — und die Mitschuld belgischer Behörden, die den Nazis vor allem die ausländischen Juden auslieferten. Einer der Hauptredner bei der zentralen Gedenkfeier wird übrigens der ehemalige israelische Präsident Chaim Herzog sein, der vor 50 Jahren als Soldat an der Befreiung Brüssels beteiligt war. Mit Rücksicht auf den jüdischen Sabbath wurde die Feier von Samstag auf Sonntag verschoben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen