: Deutschlands Reichtum wächst wieder
■ Jetzt amtlich verkündet: Die Wirtschaft wächst - um 2,8 Prozent im 1. Halbjahr 1994 / Normalbürger merken davon allerdings vorerst nicht viel und halten sich darum mit Mehrkonsum zurück
Berlin (taz/AP) – Die schwerste Rezession der Nachkriegszeit ist endgültig vorbei. Viel besser als sogar von Kojunkturoptimisten erwartet steht die deutsche Wirtschaft kurz vor der Bundestagswahl da. Zum Glücksboten für Kohl und Rexrodt wurde gestern der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Hans Günther Merk, als er turnusgemäß jene trockene Zahl verkündete, die in Unternehmen und Wirtschaftsverbänden die Sektkorken knallen ließ: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), die Summe aller hierzulande erwirtschafteten Waren und Dienstleistungen, ist im ersten Halbjahr um 2,8 Prozent gewachsen. In den alten Bundesländern verzeichneten Statistiker ein Wirtschaftswachstum von 2,2 Prozent. Die neuen Länder boomen gar; ihr Plus beträgt 8,9 Prozent, was allerdings nach dem Schrumpfprozeß der DDR-Wirtschaft nach der Vereinigung auf die Hälfte ihrer 1989er Größe durchaus relativ zu beurteilen ist. 1993 war das BIP als Folge der Rezession noch um insgesamt 1,3 Prozent gesunken, im Westen sogar um 1,9 Prozent. „Alle Frühindikatoren sprechen dafür, daß es weiter aufwärts geht“, sagte Merk. Die Auftragsbücher der Unternehmen füllen sich wieder, die Kurzarbeit wird abgebaut, und überall werden neue Maschinen und Fabrikausrüstungen angeschafft.
Der Aufschwung nach der Rezession ist, auch wenn Regierungen überall auf der Welt derartiges gerne behaupten, nicht das Werk einer Regierung. Konjunkturen verlaufen in Zyklen, und die jetzige Aufschwungsphase erfreut alle Industrieländer-Regierungen. Die Bundesrepublik profitiert dabei in hohem Maße von den Aufschwüngen zuerst in den USA und seit mehreren Wochen auch in den EU-Ländern. Vor allem die steigende Auslands- und die Baunachfrage macht Merk für das deutsche Wachstum verantwortlich. 5,3 Prozent mehr Waren und Dienstleistungen als vor Jahresfrist seien im ersten Halbjahr exportiert worden. Die Bauinvestitionen seien um 8,1 Prozent in ganz Deutschland gestiegen, in den neuen Bundesländern sogar um 42,7 Prozent. Die Konsumenten hingegen, einheitsbedingt von der Bundesregierung mit höheren Steuern und Sozialabgaben belastet, kurbelten die Wirtschaft nicht durch freudigen Mehrkonsum an.
Bis ein Wirtschaftswachstum in größerer Zahl Arbeitsplätze schafft, muß es längere Zeit anhalten und in Westeuropa dauerhaft über 2,5 Prozent liegen. „Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist noch nicht befriedigend“, konstatierte darum auch der Präsident der Statistiker. In Westdeutschland waren im ersten Halbjahr 1,6 Prozent weniger als vor Jahresfrist beschäftigt, da die Arbeitsproduktivität noch um 3,9 Prozent zugenommen hatte. In den neuen Ländern sei der Beschäftigungsrückgang aber nun zum Stillstand gekommen, was in Westdeutschland erst 1995 zu erwarten sei.
Bis die neue Aufschwungphase tatsächlich spürbar wird, werden auch noch etliche Unternehmen aufgeben müssen. Die Wirtschaftsauskunftei Bürgel in Aachen und die Hermes Kreditversicherungs-AG in Hamburg erwarten in diesem Jahr rund 20.000 Unternehmenspleiten. Die meisten davon müssen aufgeben, weil bei Umsatzeinbußen in der Rezession das Eigenkapital nicht ausreichte – und in Rezessionszeiten Managementfehler sehr viel schneller zu Buche schlagen.
Die Wirtschaftsforscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) mahnten anläßlich der schwächlichen Nachfrage im Inland die Politiker, die Einführung des Solidaritätszuschlags von 7,5 Prozent zum Jahresbeginn 1995 zu verschieben. Die beginnende Aufwärtsbewegung der Wirtschaft dürfe nicht durch Bremsmanöver behindert werden. „Hat sich die Aufwärtsentwicklung stabilisiert, ist eine Steuererhöhung allerdings unvermeidbar“ – wenn man nicht die Transferzahlungen an die neuen Länder kürzen will. Donata Riedel
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