: Biotop für Kunst-Viren
■ Das Künstlerhaus „Stresemannstraße 374“ steht kurz vor der Vollendung / Kunst und Gewerbe in einem gemeinsamen Projekt benötigten Raum
Es ist Mittag. Die Luft ist zum Ersticken und der ununterbrochene Lärm des PKW- und Schwerlasterverkehrs (immer schön nur eine Person pro Fahrzeug) ist so dröhnend, daß selbst der Preßlufthammer, mit dem ein ganzkörpertätowierter Bauarbeiter den Hof der Stresemannstraße 374 aufreißt, dazu wie ein niedliches Zirpen klingt. Ein typisches Ausfallstraßengemisch an Bauten säumt diesen Abschnitt Bahrenfelds: Teppichwelt und schmuckloser Geschosswohnungsbau, Polizei und McDonalds „Drive-In“, bittere Gewerbearchitektur und umfunktionierte Backstein-Fabriken, ein monströses Spalier für die niemals abreißende Ost-West-Abgas-Karawane. Wer hier ein Fenster öffnet, kennt das Risiko für seine physische und psychische Gesundheit.
Daß just in dieser Verwandschaft ein frisch angelegtes Biotop für die Kunst liegt, scheint auf den ersten Blick nur dadurch seine Logik zu erhalten, daß die Marginalität künstlerischer Entwicklungsprozesse im Bewußtsein einer Handelsmetropole auch örtlich auf einen Platz im stadtentwicklungsfreien Niemandsland verweist. Doch dieser Eindruck gnädiger Mißachtung der Kunst reinigt sich schnell, wenn man den knapp 7.000 Quadratmeter großen, viergeschossigen Bau betritt. Denn obwohl der Ausbau noch nicht abgeschlosssen ist, umfängt den Besucher sofort eine kühle, großzügige Atmosphäre, die gestalterischen Willen geradezu provoziert.
Die Kunst als Herzstück
Abgesehen von einigem postmodernen Schnick-Schnack wie dreieckigen Fenstern ist die ehemalige Dosenfabrik sachlich und mit Vorfahrt für natürliches Licht vom Architekten Ulrich Feierabend umgestaltet worden. Aus den großen nackten Betonhallen, die noch vor einem Jahr das Innenleben des Gebäudes ausmachten, sind eine Vielzahl unterschiedlicher Räume für die diversen hier in Zukunft beheimateten Ansprüche herausgeschnitten worden. Ateliers, Tanzstudios und ein Literaturzentrum werden dann in Bälde neben verschiedenen gewerblichen Nutzern für emsige Geschäftigkeit sorgen.
Zum jetzigen Zeitpunkt sind allerdings erst die Künstler eingezogen. Die 30 Ateliers, zwischen 30 und 110 Quadratmeter groß, die ihnen im Rohzustand übergeben wurden, sind aber erst teilweise fertig. Da der Innenausbau Angelegenheit der Mieter ist – zum einen, um Kosten zu sparen, zum anderen, um die persönlichen Bedürfnisse nicht zu reglementieren –, bestimmt das individuelle Tempo den Zustand. So erhält jedes Atelier aber auch sein ganz eigenes Gesicht. Von der roh belassenen Nutzschachtel bis zum höchst aufwendig ästhetisierten Loft-Chic ist alles vertreten.
Trotz einiger Ärgenisse bei der Bauausführung – die Türen sind zu klein für große Kunstwerke, unnötig abgehangene Decken verkleinern die Räume, die Klingeln wurden vergessen, Fenster sind undicht, der Lastenaufzug wurde entfernt und Behinderte haben keine Chance, ins Haus zu kommen – sind die meisten Künstler hochzufrieden mit dem neuen, überaus erschwinglichen Arbeitsplatz. Zehn Mark Inklusivmiete pro Quadratmeter, die allerdings nur durch den hohen Einsatz an Eigeninitiative möglich wurden, sind in Hamburg ein Glücksfall, auch wenn bemängelt wird, daß Wohnen verboten ist.
Kapazitäten auch für Tanz und Literatur
Einem Teil der jetzt hier beheimateten Künstler ist es überhaupt zu verdanken, daß dieses Projekt auf den Weg kam. Denn als im Jahr 1992 die Schule Thedestraße plötzlich einen ehemals stillgelegten Trakt, in dem sich Künstler, Designer, Architekten und Kulturvereine eingemietet hatten, für schulische Zwecke zurückerhielt, konnten die plötzlich auf der Straße sitzenden Künstler die Bürgerschaftsfraktion der SPD davon überzeugen, daß in der Atelierfrage dringender Handlungsbedarf besteht. Kurz bevor der Startschuß zum Radikalsparen fiel, beschloß die Bürgerschaft noch, 2 Millionen Mark für die Errichtung eines Künstlerhauses bereitzustellen.
Nachdem man lange einen geeigneten Komplex gesucht hatte, konnte im Januar 1993 das „Projekt Stresemannstraße“ vorgestellt werden. Die Bahrenfelder Fabrik war eine erschwingliche Immobilie und bot außerdem den Vorteil, daß dort auch andere Unterkapazitäten im Hamburger Kulturleben reguliert werden konnten. Denn neben den Künstler klagten insbesondere die Hamburger Tanztheaterszene sowie die Schriftsteller über drängende Raumnot. In dem fertigen Komplex werden deshalb auch drei Proberäume für die freie Hamburger Tanztheaterszene sowie ein „Writer's Room“ mit Arbeitsplätzen für Schriftsteller und ein dazugehöriger Veranstaltungsraum entstehen.
Die weiteren 3 Millionen Mark, die für die Umnutzung dieses Gebäudes notwendig waren, finanzierte der Vermieter, die Hamburger Gesellschaft für Gewerbebauförderung (HaGG), auf dem Kreditweg. Ziel des Gesamtprojektes soll es nun sein, als selbsttragendes Objekt möglichst ohne weitere Subventionen auszukommen. Deshalb wurden die 6.000 Quadratmeter Nutzfläche paritätisch zwischen kultureller und gewerblicher Nutzung verteilt, wobei die Ateliers inklusive Lagerräumen und einem Ausstellungsraum mit 2.000 Quadratmetern den Löwenanteil der kulturellen Nutzung ausmachen.
Tanz- und Literaturzentrum sind allerdings, im Gegensatz zu den Ateliers, von der Kulturbehörde angemietet. Da hier aber keine festen Ansprüche einzelner Nutzer auf individuelle Räumlichkeiten bestehen, wäre eine subventionsfreie Vermietung überhaupt nicht möglich gewesen. Inwieweit dies nun zu Verteilungskämpfen unter den Interessenten führen wird, ist vorerst noch offen. Zumindest in der Tanz-Szene hatte es schon im Embryonal-Zustand des Projektes einige Giftigkeiten gegeben, und auch in der Literaturszene kann man sich über die Nutzung und die organisatorische Struktur des „Writer's Room“ nicht problemlos einig werden. Da in beiden Fällen die Nutzer aber selbst die Verteilung bestimmen sollen – für den „Write's Room“ gibt es einen Verein, für das Tanzzentrum, das ab Oktober zur Verfügung steht, soll sich ein Gremium der Gruppen bilden –, werden Appetit und Sättigung wahrscheinlich nicht zur Übereinstimmung gebracht werden können.
Interaktion und Ausstrahlung
Daß das Projekt interdisziplinär befruchtend und auch im kommunikativen Kontakt zur Stadt stehen soll, erhoffen sich die meisten der Beteiligten. Zu diesem Zweck wollen die einzelnen Disziplin nicht nur Veranstaltungen ausrichten – Literaten und Theater-Produzenten sollen in ihren Räumen ihre Produktionen vorstellen, für die Freie Kunst gibt es einen eigenen Ausstellungsraum –, sondern es wird auch im Dialog mit den gewerblichen Mietern versucht, gemeinsame Interessen zu koordinieren. So soll in Kooperation mit den Gastronomen, die hier ein Restaurant für die Küche der amerikanischen Südstaaten eröffnen werden, eine Aussstellungsreihe mit amerikanischen Künstlern initiiert werden. Aber auch andere Kontakte mit den gewerblichen Mietern (etwa der afrikanischen Tanzschule, den Filmern von „Die Thede“, Designern oder Architekten) werden gesucht.
Einer der Mitinitiatoren, der Maler Peter Heber, hat sogar die Vorstellung, „daß aus diesem ,Letzten Künstlerhaus vor der Autobahn' vielleicht eine große Gemeinschaft entsteht“. Ein SoHo in Bahrenfeld ist zwar sicherlich noch weit, aber ein erster Schritt in Richtung geistiger Infizierung von Brachland ist hier sicherlich getan worden. Und vielleicht steckt diese Idee ja tatsächlich die gemächliche Kunstszene mit kleinen Kreativ-Viren an. Der Langzeit-Effekt für die auf dem Heimatauge halblinde Stadt ist auf jeden Fall nicht auszudenken.
Till Briegleb
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