: 42.195 Meter Quälerei
■ Beim 21. Berlin-Marathon gehen über 16.000 Läufer an den Start, liegen 60.000 Bananen aus und schützen 800 Polizisten das Volksfest für eine halbe Million Zuschauer
Die Lungen pfeifen. Schweißnasse Körper schleppen sich über den Asphalt. Unerträgliche Krämpfe zucken durch die ausgelaugten Beine. Daß der Marathonlauf, jene 42.195-Meter-Quälerei, dem freien Flug des Vogels am nächsten komme, wie die „Lokomotive“ Emil Zatopek einmal philosphierte, wird den Massen, die alljährlich beim Berlin-Marathon ins Ziel taumeln, ewig ein Geheimnis bleiben. Schon eher kopiert das Gros der Renner und Traber den Stil des einstigen tschechischen Wunderläufers, der 1952 in Helsinki olympisches Gold gewann: Den Kopf im Nacken, die Zunge weit herausgestreckt und fauchend wie eine Dampfmaschine riß Zatopek die Kilometer herunter – im Gegensatz zu den Asphaltjoggern auf Airbag-Sohlen aber in Weltrekordzeit.
Superlative werden beim Berlin-Marathon, der an diesem Sonntag zum 21. Mal gestartet wird, im Schatten der enteilten Spitzenläufer und jenseits der Absperrgitter aufgestellt. Ins lange Herdenrennen werden wie im letzten Jahr wieder über 16.000 Freizeitsportler aus fast 60 Ländern gehen – darunter 230 „pfeilschnelle Rollstuhlfahrer“, wie Eberhard Diepgen weiß –, die es dem inneren Schweinehund endlich einmal zeigen wollen. Horst Milde, Chef des Berlin-Marathons, zählt zwar in diesem Jahr erstmals weniger Anmeldungen als in den Vorjahren, „weil am Wochenende in Oslo der Halbmarathon und in Kiel die Deutschen Meisterschaften im 100-Kilometer-Lauf stattfinden“. Doch die Schlacht um Zahlen und Figuren bleibt eine besorgniserregende Größe, wenn man erfährt, daß 800 Polizisten zur Sicherheit auffahren, die halbe Stadt gesperrt wird, hektoliterweise Energy-Drinks verspritzt werden, 60.000 Bananen zur Stärkung ausliegen und Tausende von Plastikbechern die Straßen einsauen werden; neben Nudelparties mit 16.000 Portionen, Minimarathons, ökumenischen Gottesdiensten, Frühstücksläufen und Prominententheater.
Hinter den Ehrgeizlingen und Top-Favoriten Renata Kokowska (Polen) und Xolile Yawa (Südafrika) sowie Rollstuhl-Seriensieger Heinzi Frei (Schweiz) mit Zeiten um 2 Stunden rechnet man im Pulk der Extremlungen weniger mit Zahlen, Konkurrenzen und größeren Siegeschancen durch Ausfälle und Absagen. Vielmehr geht es dort um kuriose Gangarten, irre Klamotten, Zwischenspurts im Walkmanrhythmus oder politische Laufdemonstrationen wie die wunderbarer Marathonschwuler oder jener des Berufsalternativen Volker Schröder: „Auch diesen Marathon laufe ich wieder mit meiner Fahne „Igel für Deutschland“, meint ironisch der Kreuzberger Marathon-Man mit einer Bestzeit von 2:56 Stunden („allerdings ohne Fahne“).
Der Berlin-Marathon hat für jene, die es ertragen, den Charme eines 42 Kilometer langen karnevalistischen Straßenfestes. Zwischen dem Start am Charlottenburger Tor, Alexanderplatz und Spittelmarkt, der Sonnenallee, dem Innsbrucker Platz und der Zielgeraden auf dem Kurfürstendamm werden bei schönem Wetter nicht nur über eine halbe Million Zuschauer – meist hämische Verwandte der Renner – mit Kochtöpfen, Kuhglocken, Rasseln und Trillerpfeifen erwartet. An der Strecke aufgebaut haben sich auch mehr als dreißig Musikgruppen mit Samba, Jazz und Reggae sowie die unselige Bundeswehr-Combo mit Blasmusik. Peinlichkeiten wie die „Streckenaktivitäten“ einiger Bezirkspolitiker, die die „Läufer wieder auf Trab bringen“ oder „zum Zwischenspurt blasen“ wollen, werden die keuchenden Teilnehmer ebenso über sich ergehen lassen müssen wie den obligatorischen Kilometer 36 „Am wilden Eber“ in Wilmersdorf, wo mit Bierduschen die Zuschauer die Sau rauslassen.
Zweifellos ist auch der Berlin- Marathon ein Kind jener pseudogesundheitlichen Bewegung, die meint, die Zivilisationskrankheiten wie Bluthochdruck und Herzinfarkt durch Renn-Roßkuren ausschwitzen zu können. Kaum hatten New York oder Mailand ihre Marathon-Termine, zogen die Berliner nach. Starteten 1974 noch schlappe 286 Läufer zum „Volksmarathon“, steigerte Milde die Teilnehmerzahl 1981 auf 3.486, wobei Prominente, wie der amerikanische Olympiasieger von München, Frank Shorter, oder weniger Flinke, wie der Blödelbarde Ingo Insterburg, als Zugpferde dienten. Im Rollstuhl flitzte damals Jürgen Bondicks mit.
Die Popularität des Laufs, Preisgelder bis zu 30.000 Mark und die schnelle Berliner Strecke ließen in den Jahren die Mitläuferzahlen in die Höhe schnellen: 1984 rannten 8.800 durch West-Berlin, 1988 schon 16.400 und 1990, nach dem Fall der Mauer, gar 25.000. 1993 sackte die Zahl auf 16.500 ab – zu viele wollten nicht unter dem Bärchen-Logo für Olympia 2000 antreten oder brachen bereits in der Vorbereitung zusammen.
Der „Achttausender des kleinen Mannes“, wie der Läufer Herbert Steffny das Massen-Laufen jenseits der normalen Verträglichkeit bezeichnete, kostete 1987 einen Marathon-Abenteurer nach einem Kreislaufkollaps das Leben. Der Lauf- und Gesundheitswahn ohne Dosierung und die gefährliche Sorglosigkeit des Extremsports hatten zugeschlagen.
Ins Extreme gewandelt hat sich beim Berlin-Marathon die Kommerzialisierung und Fetischisierung des Laufs. Mit einer gigantischen Show in der Deutschlandhalle bedrängen Sportartikel-Hersteller die Läufer mit bunten Schuhen und leuchtenden Trikots, Spezial-Textilien und Running-Analysen und suggerieren nur mehr die irre Harmlosigkeit und Beherrschbarkeit des Sports. Zugleich setzen sie auf das „Muß“ zur Schnelligkeit und Ausdauer – Charaktereigenschaften der Erfolgreichen unserer Gesellschaft. Zatopek hätte darüber nur gelacht. Seine Trainingskilometer lief er schon mal in zerfetzten Hosen und in schweren Winterstiefeln: aber einfach wunderbar. Rolf Lautenschläger
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