: „Es wird Jahre dauern und Milliarden kosten“
■ Prof. Samir Abdallah leitet die Wirtschaftsabteilung des „Palestinian Economic Council“
taz: Ein israelischer Journalist sagt, die Palästinenser hätten eine eigene Flagge, aber keine eigene Ökonomie.
Samir Abdallah: Das stimmt. Aber wem soll man dafür die Schuld geben? Wir haben die Probleme von 27 Jahren Besatzung übernommen. Die Israelis haben jedes Jahr in den besetzten Gebieten rund 30 Millionen Dollar investiert. Das waren 15 Dollar pro Kopf und Jahr. In die eigene Infrastruktur haben sie rund 1.000 Dollar pro Kopf und Jahr investiert. Das Ergebnis ist Armut und Chaos in den besetzten Gebieten.
Nach einer neuen Statistik gibt es im Gaza-Streifen und in der Westbank viel mehr Fernsehgeräte als 1967.
Auch mehr Autos und mehr Eisschränke. Aber die meisten sind gebraucht und aus Israel eingeführt. Gaza und Westbank wurden die Müllhalde für solche langlebigen Güter. Doch die Zahl der Autos und der Fernsehgeräte sagt nichts über den Zustand der Ökonomie aus. Die Ursache unserer wirtschaftlichen Misere ist die Politik der Israelis über einen langen Zeitraum. Nehmen Sie nur die Arbeitslosigkeit. In Gaza sind 60 Prozent arbeitslos, in der Westbank 40 Prozent. In den besetzten Gebieten sind jedes Jahr nur 1.000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden, es hätten mindestens 15.000 sein müssen, um den Zuwachs der Arbeitskräfte auszugleichen. Alle unseren eigenen Initiativen sind auf bürokratischem Wege erstickt worden. Man brauchte für alles Genehmigungen, Erlaubnisse, Lizenzen. Diese Politik sollte die Palästinenser zur Emigration oder zur Arbeit in Israel zu zwingen. Die besser Ausgebildeten gingen in die Golfstaaten, die Ungelernten auf Baustellen in Tel Aviv – wohin Sie auch schauen, alle unsere Probleme hängen mit der Besatzungspolitik zusammen. Deswegen müssen die Israelis jetzt mit uns bei der Lösung dieser Probleme zusammenarbeiten.
Was nutzt das Protokoll über ökonomische Beziehungen, das in Frühjahr in Paris unterzeichnet worden ist?
Es wäre im Interesse beider Seiten, wenn es fair angewandt würde. Wir haben in Gaza und in Jericho die Zivilverwaltung übernommen. Jetzt müssen wir zuerst einmal die Institutionen der palästinensischen Regierung aufbauen, also das Wirtschafts-, das Finanzministerium, die Ministerien für Erziehung und Gesundheit. Bis vor kurzem gab es keine Planungsbehörde, keine Stelle zur Überwachung und Koordination der Arbeiten.
Wer bezahlt die Angestellten der Zivilverwaltung und die Polizisten?
Wir. Wir haben ein Abkommen mit der Weltbank, die uns schon Geld überwiesen hat. Wir brauchen jeden Monat 13 Millionen Dollar für die Zivilverwaltung und sieben Millionen Dollar für die Polizei macht 20 Millionen Dollar jeden Monat.
Sie haben den Bau des palästinensischen Nationalheimes mit dem Dach angefangen und jetzt kümmern Sie sich um das Treppenhaus und die einzelnen Etagen.
Wir hatten keine andere Wahl. Und die Zivilverwaltung der Israelis ist immerhin eine Grundlage, die wir übernehmen konnten. Nun sind wir dabei, die Stellen mit Palästinensern zu besetzen.
Schimon Peres meint, kein palästinensischer Politiker traue sich, Steuern einzutreiben.
Wir haben in der Tat ein Problem, das Ansehen der Steuerbehörden ist mehr als schlecht, das muß sich ändern.
Wir lange wird es dauern und wieviel wird es kosten, die besetzten Gebiete wirtschaftlich zu sanieren?
Das kann niemand sagen. Es wird sicher einige Milliarden Dollar kosten. Und wenn alles gutgeht, wird es mindestens fünf Jahre dauern, wahrscheinlich länger.
Yassir Arafat hat an die Israelis appelliert, den Palästinensern zu helfen. Ist das nicht seltsam?
An wen sonst sollen wir uns wenden? Die Israelis sind für diesen Zustand verantwortlich. Unsere Arbeiter waren billige Arbeitskräfte in Israel, sie haben dazu beigetragen, israelische Produkte konkurrenzfähig zu machen.
Helfen die Palästinenser in der Diaspora?
Sie kommen hierher, sind ganz aufgeregt, schauen sich alles an und können nichts machen. Wenn ein palästinensischer Geschäftsmann aus den USA mit 20 Millionen Dollar herkommt und eine Bank aufmachen möchte, dann weiß er nicht, wo er die Lizenz beantragen kann. Also fährt er wieder zurück und wartet ab. So ist die Lage. Fragen: Henryk M. Broder
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