: Vegetarier im Steakhouse
„Mein Kino – Die 100 schönsten Filme“ – Der Kollege vom „Spiegel“, Hellmuth Karasek, hat ein amüsantes Filmlesebuch geschrieben. Nix für die Haute Gouture! ■ Von Karl Wegmann
Als Steven Spielberg 1973 auf einer Pressekonferenz in Rom seinen Film „Duell“ vorstellte, die Geschichte eines kleinen Angestellten, der auf seiner Nachhausefahrt in den Aggressionsradius eines riesigen Tanklasters gerät, wollten einige italienische Kritiker den Regisseur darauf festnageln, daß sein Film den Kampf zwischen der Oberschicht und der Arbeiterklasse im heutigen Amerika symbolisiere. Spielberg weigerte sich, diese Interpretation zu bestätigen, woraufhin vier Kritiker beleidigt den Saal verließen. Auch in Deutschland gibt es unter den Filmkritikern haufenweise von diesen Besserwissis. Sie benehmen sich wie missionierende Vegetarier in einem Steakhouse, und nicht nur Regisseure haben regelmäßig eine unheimliche Begegnung mit der schreibenden Art. Spiegel-Autor Hellmuth Karasek gehört eindeutig nicht zu diesen „großen“ Interpretanten.
Eigentlich ist das Metier des Filmkritikers ein völlig überflüssiges. Noch nie hat ein Verriß das breite Publikum vom Kino ferngehalten oder eine Lobeshymne die Massen vor die Leinwand getrieben. Und noch nie hat eine Filmbesprechung einen Regisseur oder ein Studio veranlaßt, den nächsten Film nicht oder anders zu machen. Hellmuth Karasek, selbst Komödien- und Drehbuchschreiber, weiß das. Im Vorwort zu seinem neuen Buch „Mein Kino – Die 100 schönsten Filme“ stellt er fest: „Es ist das Publikum, das das Kino ausmacht, das Kino macht und das Kino bewahrt.“ Und: „Wer über die hundertjährige Filmkunst sprechen will, muß sie auch vom Zuschauer aus erzählen, für den das alles erdacht und gemacht wurde.“ Karasek ist weit entfernt vom oben erwähnten Cineastenhochmut, er findet „keine Filme gut, weil niemand reingeht, und keine schlecht, bloß weil sie Kassenhits sind“. Er hat sich bewußt die viel zitierte „Fähigkeit zu staunen“ erhalten und schreibt über das, was er wirklich gesehen, wie er sich dabei gefühlt, ob er sich unterhalten hat. Das ist gut so, weil so die Rezension auch den Leser unterhält und ihn nicht nervtötend und meist falsch belehrt.
Natürlich ist das Wort Unterhaltung bei vielen schreibenden Cineasten ein Schimpfwort. Man denke nur an die 60er Jahre, als in Deutschland alles vom Autorenfilm schwärmte, von der Nouvelle vague, den italienischen Neorealisten. Doch einer der größten Autorenfilmer, Billy Wilder, wurde als albern und belanglos abgetan, oder aber seine Filme bereiteten den Kritikern so viel Vergnügen, daß es ihnen unanständig vorgekommen wäre, sie als Kunst zu bezeichnen. Karasek liebt den Schöpfer von „Some like it hot“ und das „Apartment“, er hat ein Buch („Billy Wilder – Eine Nahaufnahme“) über ihn geschrieben. In seinen „100 schönsten Filmen“ ist Wilder mit fünf seiner Werke vertreten, genauso oft wie Hitchcock, einmal weniger als Lubitsch und Howard Hawks. Die Screwball- Comedies, die romantischen Filmkomödien von 1934 an, haben es dem Autor besonders angetan, aber auch Scorsese, Kubrick, Polanski, Spielberg, Ridley Scott, Coppola, Woody Allen, Fellini, Bergmann, Clint Eastwood und viele andere Regisseure werden ausreichend, in gewohnt amüsanter Weise und anekdotenselig gewürdigt. Außerdem erfahren wir, wie Herr Karasek am College in Middlebury, Vermont, zum Spaß mit Studentinnen in „Jaws“ („Der weiße Hai“) ging, „weil sich die Mädchen während der Schrecksekunden an einem festklammerten, aus lustvoller Angst“, und er setzt sich auch weiter, äußerst erfrischend, über die political correctness hinweg, indem er z.B. einen alten Kinowitz erzählt: „Man hört eine weibliche Flüsterstimme im eben erdunkelten Kinosaal: ,Nehmen Sie sofort Ihre Hand weg!‘ Kleine Pause. ,Nicht Sie! Nicht Sie!‘“
Doch der Schalk im Nacken und der nochmalige deutliche Hinweis, daß es sich bei „Mein Kino“ um eine subjektive Auswahl von Filmen handelt, „meistens das, was man mit verächtlich geschürzten Lippen Mainstream-Kino nennt“, nützten nicht, um sich die Besserwissis vom Hals zu halten. Sie verrissen das Buch, weil der und nicht der Film in der persönlichen Hitliste auftaucht, weil der eine Regisseur zu oft, der andere zu wenig oder gar nicht vertreten ist, weil nur Tonfilme besprochen werden, usw. usf. Damenhaft-elegant hat die FAZ, Nase gen Himmel gereckt, den Autor gerügt und ihm (und damit natürlich auch dem Publikum) „einen enttäuschend gewöhnlichen Geschmack“ bescheinigt. Alle dumm außer ich!
Hellmuth Karasek hat das erwartet und im Vorwort, quasi als Prophylaxe, einen Satz von Jean Améry eingebaut: „Es lehrt uns die Geschichte des Films, das grosso modo die erfolgreichsten und also die Massen ansprechenden Werke öfter, als man sich eingesteht, auch jene sind, die den verwöhnten Kennern, sofern sie nur mit uns und sich selbst ehrlich sind, am besten gefallen.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Oder doch, eine kleine persönliche Bemerkung: Hör zu, Karasek, wenn Du in „Mein Kino II“, das hoffentlich bald erscheinen wird, nicht Antonionis „Blow Up“ (mein Lieblingsfilm) in epischer Breite besprichst, entziehe ich Dir ganz fix mein Wohlwollen und laufe zu den Hochnäsigen über. Ende.
Hellmuth Karasek: „Mein Kino – Die 100 schönsten Filme“. Hoffmann und Campe, 480 Seiten, geb., 48DM.
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