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■ Rußland nach dem RubeleinbruchKostspieliger Neuanfang

Massen hätten Banken gestürmt, Wechselstuben auseinandergenommen und lauthals die Bestrafung der Halunken gefordert. Kurzum: eine revolutionäre Situation wäre entstanden. Dergleichen Szenario wäre eingetreten, wenn die Valuta eines westlichen Landes unerwartet über Nacht ein Viertel ihres Wertes eingebüßt hätte. Doch die Russen halten still, als könnte ihnen die Bewegung auf dem Devisenmarkt nichts anhaben. Erklärungen für die contenance à la russe lassen sich schnell finden? Das Vertrauen in die Politiker ist entweder grenzenlos, oder man erwartet von ihnen ohnehin nichts. Dann bleibt da noch das klassische Argument der unbegrenzten Leidensfähigkeit des russischen Volkes. Alle diese Varianten treffen nicht zu.

Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung kann sich ausrechnen, welche Konsequenzen der Kurseinbruch für seinen Lebensstandard bringen wird. Die Kosten für Importwaren dürften im Laufe der nächsten Tage in die Höhe schnellen. Kleinere Händler werden nicht mehr mithalten können und ihre Läden schließen müssen. Schon die Beseitigung von Konkurrenz führt zu Verteuerung. Egal ob Jelzin ein Einfrieren der Preise verspricht oder nicht. Darauf hat er gar keinen Einfluß mehr. In den großen Städten Moskau und Petersburg versorgt sich die Bevölkerung nämlich zu 90 Prozent mit ausländischen Lebensmitteln. Die inländische Produktion stellt nichts mehr her oder ist so überteuert, daß keiner auf sie zurückgreift. Die Preise werden die soziale Lage zuspitzen. Rubelrücklagen in nennenswerter Höhe haben nur die wenigsten Bürger. Die meisten sichern ihr Geld in Dollar oder DM. Besonders hart trifft es daher die, die von der Hand in den Mund leben – vor allem die Rentner. Jelzin wird Renten und Sozialhilfe wieder erhöhen müssen.

Es verwundert nicht, wenn Jelzin Minister entläßt und den Kopf des Zentralbankchefs fordert. All das hilft aber nicht mehr, um Instabilität und Vertrauensschwund Einhalt zu gebieten. Der Zug ist abgefahren. Von Komplott und Sabotage zu sprechen kann nur einfache Gemüter zufriedenstellen. Die Regierung hat es ziemlich lange geschafft. Prognosen nach Amtsantritt gaben ihr bestenfalls ein Jahr. Erneuerung oder wenigstens Umbesetzungen wären ein Segen, wenn jene Minister gingen, die eine schamlose Lobbyistenpolitik betrieben haben, unter der nun alle leiden müssen. Schließlich waren sie Zugeständnisse an die parlamentarische Opposition, die jetzt auch zu Recht erbost ist. Rußland ist begnadet darin, sich immer wieder die Chance zu einem Neuanfang zu schaffen. Und kostspielig muß er sein. Klaus-Helge Donath, Moskau

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