: „Wir regieren dann 1998“
Betretene Gesichter bei den Sozialdemokraten: Mit dem Auftritt Scharpings schwanden endgültig alle Hoffnungen auf den Wechsel ■ Aus Bonn Erwin Single
Vor dem Ollenhauer-Haus lächelt die Troika auf Plakaten noch überlebensgroß in der Dämmerung. Drinnen, in der dicht gedrängten SPD-Baracke, war den versammelten Parteimitgliedern vor Schließung der Wahllokale die ungeheure Anspannung von den Gesichtern abzulesen. Dann, als der erste Trend über die Bildschirme flimmerte, zeigten die meisten Genossen kaum eine Reaktion. Alle rechneten erst einmal die Mehrheitsverhältnisse durch. Und trotz der prognostizierten 37 Prozent für die eigene Partei gab es dann doch nicht wenige betretene Gesichter, als sich eine hauchdünne Mehrheit für die amtierende Kohl-Regierung abzeichnete. Wieder war das hehre Ziel des Kanzlerwechsels nicht erreicht. Nach Rau, Vogel und Lafontaine war nun auch Scharping an der Ein-Mann-Performance des Dicken aus Oggersheim gescheitert.
„Schade, schade, Kohl weiter im Amt“, stießen denn auch einige unverdrossene Genossen aus. Sie hatten mit einigen Prozentpunkten mehr gerechnet und auf den Wechsel gesetzt. Nur Anke Fuchs, Schattensozialministerin und frühere SPD-Geschäftsführerin, war rundum zufrieden: „Eine Sozialdemokratische Partei mit 37 Prozent, das ist schon ein stolzes Ergebnis.“
Im abgeschirmten Sicherheitsbereich hinter dem mit Fernsehkameras vollgestopften Foyer griff die SPD-Prominenz derweil zum Funktelefon, um sich über Ergebnis und Perspektiven zu verständigen. Herausgekommen ist bei der Funkerei wohl nicht allzu viel, denn es galt, was Christine Bergmann gleich nach der ersten Prognose wußte: „Es bleibt spannend bis zum Schluß.“
Einer der ersten, der prompt Stellung bezog, war Günter Verheugen. Eine Mehrheit für Kohl sei noch nicht ausgemacht, über eine Regierungsbildung könne deshalb ebenfalls nicht spekuliert werden. Dazu sei es noch zu früh, quittierte der SPD-Geschäftsführer die Frage nach möglichen Koalitionen und ließ die Reporter stehen, um sich erneut dem Small-talk auf den Fluren des Ollenhauer- Hauses zu widmen. Längst hatte da, freilich in den Hinterzimmern, das Ausloten der politischen Untiefen und das Deklinieren der politischen Farbenlehre begonnen. Für alle Fälle wollte man gewappnet sein.
Gefragt und ungefragt betonten auch andere SPD-Spitzengenossen, daß noch gar nichts entschieden sei. Auch sie hofften, wie die meisten der anwesenden Parteimitglieder, inständig, daß sich das Blatt noch wenden könnte. Drei Stimmen Vorsprung für Union und Liberale, das sei mehr als knapp und könne auch noch auf zwei oder gar eine zusammenschrumpfen. So oder so, für Peter Glotz, SPD-Führungsmitglied, direkt aus München zugeschaltet, zeichnete sich mit der Bundestagswahl eine „tiefgreifende Veränderung der politischen Landschaft“ ab. „Die großen Parteien werden sich mit diesem Ergebnis schwertun.“
Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder war da, wie es seine Art ist, weit weniger diplomatisch. „Es steht fest“, kommentierte Scharpings heimlicher „Superminister“ für Wirtschaft, Verkehr und Energie das Ergebnis, „daß man in Deutschland mit einer so lächerlichen Mehrheit nicht regieren kann.“ Die Regierungskoalition, so betonte er, sei ganz eindeutig der klare Wahlverlierer. Nach diesem Ergebnis stehe fest, daß Deutschland nicht mehr gegen die Sozialdemokraten zu regieren sei.
Rudolf Scharping, der Kanzlerkandidat, ließ ersteinmal auf sich warten. Fast zwei Stunden nach den ersten Hochrechnungen trat er dann vor seine Genossen und wurde mit tosendem Applaus begrüßt. Doch der SPD-Chef mußte den Jubel dämpfen: „Es spricht manches dafür“, so gestand er ein, „daß wir das Wahlziel diesmal nicht erreichen.“ Natürlich durften nach diesen Enthüllungen auch trostspendende Worte nicht fehlen: „Wenn wir jetzt nicht regieren, dann ist eines gewiß: Wir werden es 1998 oder früher mit großer Sicherheit.“ Die Sozialdemokratie, da war der Kanzlerkandidat sich mit Schröder einig, werde in den nächsten vier Jahren in welcher Rolle auch immer eine starke Kraft sein, an der in Deutschland niemand mehr vorbeigehen könne. Außerdem sei ja auch nicht auszuschließen, „daß die Koalition im Laufe der Legislaturperiode in Schwierigkeiten kommt“.
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