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Die Zeit der Leidenschaften ist vorbei

Rubelsturz und Rücktrittsgerüchte, alles scheint darauf hinzuweisen, daß Moskau vor einem neuen heißen Herbst steht / Doch die Bedingungen haben sich seit 1993 geändert  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

„Geht er nun, oder geht er nicht?“ Wieder einmal kriechen Gerüchte durch die Kremlmauern, um die sich allerhand Sternendeuter eingefunden haben. Während Präsident Jelzin sichtlich den Besuch der englischen Königin genießt, kämpft Premierminister Viktor Tschernomyrdin mit den Folgen einer Medienente. Der Radiosender „Echo Moskau“ verbreitete am Dienstag die Meldung seines bevorstehenden Rücktritts. Tschernomyrdin ließ durch Sekretär Surow sofort dementieren: „Alles Unsinn, ich bestätige das nicht.“

Die Folgen des dramatischen Kurseinbruchs des Rubel haben natürlich auch Tschernomyrdin in Mitleidenschaft gezogen. Er mußte sofort seinen Urlaub unterbrechen und traf sich mit Jelzin zu einem mehrstündigen Gespräch. Dann fuhr er wieder in den Süden, aber nicht ohne seine Version des Geschehens der Öffentlichkeit kundzutun. Im Unterschied zu Jelzin sah der Premier keine dunklen Mächte am Werk, die die Regierungspolitik bewußt sabotieren und eine Krise herbeiführen wollten. Tschernomyrdin blieb nüchtern: Zentralbank und Regierung hätten eine Reihe Fehler selbst zu verantworten. Durch Teileingeständnisse trat er eine Vorwegverteidigung an. Nächste Woche wird sich sein Kabinett einem Mißtrauensvotum im Parlament zu stellen haben.

Die erforderliche Mehrheit kommt wohl kaum zustande. Denn zur Zeit hat keine maßgebende politische Kraft in Moskau Interesse an einem Regierungswechsel. Vielmehr setzen sie auf Ruhe und eine gewisse Stabilität.

Die Präsidentschaftswahlen Mitte 1996 rücken näher. Mit der neuen russischen Verfassung läßt sich nur etwas über das Amt des Präsidenten bewegen. Das Parlament spielt eine untergeordnete Rolle. Daher scheint es eher unwahrscheinlich, daß sich die großen Fraktionen der Kommunisten, Agrarier oder der ultranationalistischen Liberaldemokraten auf der letzten Wegstrecke noch durch eine Kabinettseinbindung verschleißen lassen. Ihnen geht es darum, innerhalb der Opposition jeweils ihren Präsidentenkandidaten durchzudrücken. Verständigung ist noch lange nicht in Sicht, und so etwas bindet Kräfte.

Außerdem stellt sich die Frage, wer sollte mit welchem grundsätzlich abweichenden Konzept in die Regierung einrücken? Tschernomyrdins Mannschaft besteht schon aus Koalitionären, in der die exponierten Reformer eindeutig eine Minderheit stellen. Nicht zuletzt bestätigten das die Ereignisse des „schwarzen Dienstags“. Milliardenbeträge waren an marode Industriebetriebe und in die Landwirtschaft geflossen. Auch der militärisch-industrielle Komplex war wieder über Gebühr bedacht worden. Statt die Gelder in den Umbau der Produktion zum Zwecke ihrer Konkurrenzsteigerung zu investieren, wurden die Mittel spekulativ zweckentfremdet. Der Lobby aus altgedienten roten Fabrikdirektoren und Sowchosvorsitzenden dürfte das keine Neuigkeit gewesen sein. Schicken sie die Regierung in die Wüste, drehten sie sich den eigenen Geldhahn zu. Das entbehrte jeder Logik.

Für Jelzin kam der Kurseinbruch wie gerufen. Er präsentierte sich dem Volk entschieden und nutzte die Chance, sein angeschlagenes Image aufzupolieren. Selbst in Rußland ist manchmal Arbeit Arbeit und Schnaps Schnaps. Und so hatte selbst ein Vorreiter der Perestroika, Jegor Jakowlew, sich veranlaßt gesehen, den Präsidenten zu kritisieren: „Ihre Leidenschaft für Spirituosen stellt für niemanden ein Geheimnis dar, außer für Sie“, schrieb er in einem offenen Brief. Die Popularitätskurve Jelzins ist so niedrig wie nie zuvor, selbst wenn sie noch ein wenig über der anderer Politiker liegt.

Zwischen Präsident und Premier mag es inhaltliche Differenzen geben. Zwischenzeitlich verdichteten sich tatsächlich Vermutungen, Tschernomyrdin sei zum entscheidenden Mann im Kreml aufgestiegen und nabele sich von Jelzin ab. Inwieweit das der Wahrheit entspricht, bleibt dahingestellt. Eigentlich kann Jelzin sich keinen anderen Kabinettschef wünschen. Nach außen vertritt er unbeugsam die Reformlinie des Präsidenten, nach innen befriedigt er die einflußreiche Lobbyistenszene. Daß der Premier sein wirtschaftliches Etappenziel für dieses Jahr nicht erreicht hat, fällt dabei weniger ins Gewicht. Er hatte eine niedrigere Inflation und vor allem einen Produktionszuwachs prophezeit. Statt dessen sank die Produktion noch weiter.

Jelzin und Tschernomyrdin sitzen in einem Boot. Dem Premier wird sogar nachgesagt, einer der treuesten Anhänger des Präsidenten zu sein. Sein Rücktritt und das Karussell um einen Nachfolger würde das Parlament wieder auf die Bühne rufen. Mit Turbulenzen wäre zu rechnen, die Jelzin nicht ins Konzept passen dürften.

Andererseits wird er mit einer gewissen Genugtuung zuschauen, wenn die Duma Tschernomyrdin und einige Minister in die Mangel nimmt. Unabhängig vom Ausgang steht er über dem Streit. Schelte des Parlaments macht das Kabinett gefügiger und empfänglicher für die Wünsche des Präsidenten.

Um einen geschaßten Tschernomyrdin würden sich neue Koalitionen bilden. Dem nicht unpopulären Premier wäre damit eine glänzende Ausgangsbedingung für die Präsidentschaftswahlen geschaffen worden. In seiner jetzigen Eigenschaft kann er nur durch Gesichtsverlust gegen seinen Herrn antreten, sollte der sich zu einer erneuten Präsidentschaftskandidatur entscheiden, worauf Reformarchitekt Jegor Gaidar gerade das heterogene demokratische Lager einschwören möchte.

Die Gegensätze in Rußlands Politik und Gesellschaft haben sich seit dem heißen Herbst 1993 nicht grundlegend geändert. Doch die Rahmenbedingungen – die Einsicht der sich bekämpfenden Parteien, gegen die Verfassung nichts erreichen zu können – wohl. Und Leidenschaften sind gewichen. Das läßt sich als ein Zeichen von Normalisierung werten.

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