26. Oktober 1989: Kampagne der Polizei
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Die Kampagne geht weiter. Der Polizeipräsident von Berlin, Friedhelm Rauch, gab gestern mehreren ausgesuchten Journalisten ein Interview im Polizeipräsidium in der Keibelstraße. Heute steht es in allen Berliner Tageszeitungen – wie immer bei solchen Gelegenheiten ungefähr gleichlautend.
Wieder ist von Müttern die Rede, die wegen der Verkehrsbehinderungen ihre Kinder nicht rechtzeitig aus dem Kindergarten oder aus der Krippe hätten holen können. Als besonderes Bonbon liefert der Herr Generalleutnant noch die Geschichte eines Rettungswagens, der um ein Haar einen Patienten mit Herzinfarkt zu spät erreicht hätte, weil das Auto von Demonstranten aufgehalten worden sei. Ich erinnere mich an die Situation ganz genau. Die Menge stand vor dem Gebäude der ADN-Nachrichtenagentur und rief: „ADN, hör auf zu penn'.“ Von der Prenzlauer Allee her näherte sich ein Rettungswagen mit heulendem Martinshorn. Die Demonstranten öffneten eine Gasse, und der Wagen sauste mit kaum verminderter Geschwindigkeit durch die Menschenmenge.
Autofahrer, durch die Demonstration aufgehalten, verließen ihre Fahrzeuge und gesellten sich zu den Sprechchören. Ich stand unmittelbar vor einem Lastwagen, mitten auf der Kreuzung. Als überschaubar war, daß es auf absehbare Zeit nicht weitergehen würde, stellte der Fahrer den Motor ab und befestigte eine brennende Kerze auf dem Armaturenbrett, dicht hinter der Windschutzscheibe. Wir Demonstranten winkten ihm zu, er winkte zurück.
„Auf eine entsprechende Frage unterstrich Generalleutnant Rausch, die VP habe ihr Wirken stets als Dienst am Volke verstanden.“ Steht im Neuen Deutschland. Stets im Dienst des Volkes – diese Kaltschnäuzigkeit ist kaum zu überbieten. Dieser Dienst am Volk besteht offenbar darin, Menschen zusammenzuschlagen, wenn sie der weisen Führung der Staatsmänner überdrüssig sind. Wolfram Kempe
Unser Autor ist Schriftsteller und Publizist. Er lebt in Berlin.
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