Sanssouci: Vorschlag
■ Kreuzberg – die Wahrheit: „Im Schatten der Hochbahn“
Draußen, auf gleicher Höhe, fährt sie vorbei, die Linie 1. Drinnen, im Foyer des Theaters am Halleschen Ufer, wird ein Mythos gefeiert – und sie, sie sind ein Teil davon, immer bunt, mit wildem Haar und manchmal noch mit „Pali“-Tuch. Kreuzberg als es noch gefährlich und aufregend war, davon handelt die Sage „Im Schatten der Hochbahn“, live on stage gebracht von „Zwei Dritteln“. Es ist ein Rap-Musical, teilweise im Dreivierteltakt und mit Tooth-Brush-Scratch-Freestyle-Rap-Einlagen, ein paar Schnulzen und einem herrlichen Bierleichenblues. Fürs Herz gibt's zwei Multi-Kulti-Romanzen: Zwischen der 45jährigen Lehrerin und dem 25jährigen Rapper mit Abitur sowie zwischen dem türkischen Gangleader und Silke, der Getränkeverkäuferin.
1. Mai in Kreuzberg. Die Omas hier sind gefährlich, warnt der leiseste Rapper der Welt, MCCC. Die Devise des Tages: den Getränkeladen H. ohne „Plünni“ durchzubringen. Ansonsten haftet die Verkäuferin Silke. Aber es gab auch schon weit gefährlichere Zeiten, als die der multikulturellen HipHop-Rapper, die im Musical die Straßen unsicher machen. Diesen alten wahren Kreuzberger Zeiten hängen die arrivierten Ex-Spontis nach. Aufgedonnert haben sie sich zum nostalgischen 1.-Mai-Jahrestreffen auf dem Balkon der spottbilligen 280-Quadratmeter-Dachgeschoßwohnung eines ehemals besetzten Hauses versammelt. Der Getränkeladen wird aber doch überfallen, während sich die Alt- Spontis mit Spirituosen aus dem „Spätkauf“ zulaufen lassen. Wie wahr, der Kommentar: „In diesem Land wird alles irgendwann zum Mittelstand.“
Autor Thomas Pigor, der zusammen mit Benjamin Rinnert auch die Musik schrieb, bewohnte jahrelang elf Quadratmeter Kreuzberg, betrieb dort offensichtlich exakte Sozialstudien und hegt eine ausgeprägte Vorliebe für das „Trivialgenre“ Musical, die er im „College of Hearts“ nach Herzenslust auslebte. Cool und doch charming kommt nun das Streetgang-Pathos daher, den vor allem Sükriye Dönmez als Fatma, Christine Matt als Dr. Best und – supercharming – Benjamin Rinnert als Rapper MCCC auftragen. Er trifft wohl am besten den Pigors Texten angemessenen Zungenschlag: schnell, beiläufig, mit bodenlosem Understatement. Überzeugend auch Gabi Schmalz als Säuferin Clara mit ihrem unwiderstehlichen Mut zur Häßlichkeit und Christoph Jungmann mit ekliger Arriviertensülzerei. Manchmal jedoch, vor allem im zweiten, romantischeren Teil, wünscht man sich mehr Tempo. Auch das Bühnenbild ist zwar zweckdienlich, insgesamt jedoch eher stumpf und phantasielos. Irgendwie „Kotti hoch zehn“. Aber so lieben sie ihn eben, die Kreuzberger. Petra Brändle
Heute, morgen, 1.-6. und 8.-13. November, jeweils 20.00 Uhr im Theater am Halleschen Ufer 32, Kreuzberg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen