: Ich war der erste Ossi
■ 9. November 89: Ein Bild geht um die Welt – taz goes West
Am 9. November 1989 öffnete Günter Schabowski – mehr oder weniger geplant – die Mauer. Der Freudentaumel der folgenden Nacht kannte nicht Rechts, nicht Links, kein Ost, kein West. Jeder feierte, daß er rüber konnte. Ein seliger Rausch. Er dauerte, wir wissen das heute, nicht sehr lange. Die Berliner Bild-Zeitung brachte am nächsten Tag ein Foto, das um die ganze Welt ging. Amerikanische und japanische Zeitungen brachten es. Es war aufgenommen worden am traditionsreichen Checkpoint Charlie, und es symbolisierte die Ost-West-Begegnung, wie man es sich kaum besser wünschen konnte: ein von westlicher Fitneß- Ideologie völlig unberührter DDR-Bürger wird willkommen geheißen von überaus attraktiven blonden Frauen und einer Flasche Schampus.
Aber der Schein trog. Die Wiedervereinigung begann auch hier mit einer Lüge. Das Bild dokumentiert eine ganz andere Geschichte. Woher ich das weiß? Ich war dieser Ossi. Ich war damals Redakteur der taz, hatte, wie jeden Tag, im Café Adler am Checkpoint Charlie gesessen – mit Blick auf die nicht einmal zehn Meter entfernte Mauer – und las in Manuskripten und Zeitungen.
Im Hinterzimmer tagte die taz- Frauenredaktion mit der damaligen Chefredakteurin unseres Blattes, Georgia Tornow. Sie wurde ans Telefon gerufen, kam nach dem Gespräch aufgeregt zu mir und sagte: „Die Mauer wird heute geöffnet.“ „Du spinnst“, war meine realpolitische Antwort. „Nein, es ist definitiv. Ruf doch die Redaktion an.“ „Quatsch. Ich geh jetzt hier durch die Grenze, und wenn sie mich lassen, dann weiß ich, daß die Geschichte stimmt.“ Ich zog meine Jacke an und setzte mich in Bewegung. Georgia Tornow, die taz-Frauenredaktion und ein, zwei Kellnerinnen gingen mit vor die Tür, um zu sehen, was geschehen würde. Ich ging am ersten Grenzer vorbei. Der war so perplex, daß er mir nur noch hinterherrufen konnte. Der zweite stand ein paar Schritte weiter, rief mir ein Halt zu, stoppte mich aber nicht. Da kam mir ein dritter entgegen. Jetzt war ich eingekeilt. „Die Grenze ist doch offen, was wollen Sie?“ fragte ich. „Sie befinden sich widerrechtlich auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik. Verlassen Sie es sofort.“ „Aber die Grenze ist doch offen...“ „Nur für unsere Leute“, sagte Nummer drei und packte mich am Ärmel. Ich ließ mich gerne hinausgeleiten. Ich hatte in der Stimme des Grenzbeamten so etwas gehört wie Stolz. Endlich einmal eine Freiheit, ein Privileg für die Bürger der DDR. Etwas, was sie durften und wir nicht.
Von den Mitgliedern der Grenztruppen der Deutschen Demokratischen Republik begleitet, verließ ich deren Territorium. Uns entgegen kamen taz-Redakteurinnen und Kellnerinnen aus dem Café. Sie hatten zwei Flaschen Sekt dabei und ein halbes Dutzend Gläser und wollten anstoßen. Nicht auf die Wiedervereinigung. An die dachte in diesem Augenblick niemand von uns. Sondern auf die Öffnung der Mauer, auf die Möglichkeit, einander frei besuchen zu können. Die bewaffneten Grenzorgane ließen sich nicht zum Nippen am kapitalistischen Schaumwein verlocken.
Ein Fotograf knipste unentwegt. Auch er hatte gehört, daß heute die Mauer geöffnet werden sollte und war sofort zum Checkpoint Charlie gegangen, um dabeizusein, wenn der Eiserne Vorhang sich hob. Es dauerte noch Stunden, bis die ersten echten Ossis durch die Mauer kamen. Aber sein Foto mit dem falschen sah so echt aus, daß die Agenturen es gerne nahmen. Außerdem war es natürlich auch das erste, das ihnen vorlag.
Die kleine Anekdote zeigt, wie interpretationsbedürftig Fotos sind. Man darf seinen Augen nicht trauen. Schon gar nicht, wenn es um Weltgeschichte geht.
Die viel traurigere Moral dieser Geschichte ist aber, daß den Ossis schon in ihrer Geburtsstunde die Schau gestohlen wurde, und das von einem, der ihnen nichts Böses wollte. Arno Widmann
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