: „Egal, wer in Dublin regiert“
Überschattet vom Rücktritt der irischen Regierung, besuchte Sinn-Féin-Chef Gerry Adams das Londoner Unterhaus / Regierungskrise kein dauerhaftes Hindernis im Friedensprozeß ■ Aus Dublin Ralf Sotscheck
Neun Jahre gehörte er dem britischen Unterhaus als Abgeordneter an, aber seinen Sitz hatte der Chef der Sinn Féin, des politischen Flügels der Irisch-Republikanischen Armee, aus Protest gegen die Besetzung Nordirlands nie eingenommen. Vorgestern hat er das Gebäude nun zum ersten Mal betreten: Auf Einladung des Labour- Abgeordneten Tony Benn war Gerry Adams nach London gekommen und sprach hinter verschlossenen Türen mit einer Reihe von Abgeordneten – darunter auch dem Vorsitzenden des anglo- irischen Parlamentsausschusses, Peter Temple-Morris von den Torys.
Der „historische Augenblick“, wie Benn es nannte, wurde jedoch vom Rücktritt der irischen Regierung überschattet. Adams forderte die Dubliner Parteien auf, „dringend eine neue Regierung“ einzusetzen, um den nordirischen Friedensprozeß nicht zu gefährden. Er betonte, Sinn Féins Einsatz für eine friedliche Lösung hänge nicht davon ab, „wer in Dublin regiert“. Anlaß zur Sorge gebe jedoch „die ständige Weigerung der britischen Regierung, aktiv am Friedensprozeß teilzunehmen“.
Premierminister John Major kündigte am Donnerstag an, im Dezember Vorgespräche mit Sinn Féin und den nordirischen Loyalisten aufzunehmen. In einem Brief an seinen zurückgetretenen irischen Amtskollegen Albert Reynolds versprach Major, die „gute Zusammenarbeit“ mit seinem Nachfolger fortzusetzen. Wer das sein wird, entscheidet sich jedoch erst im Laufe der kommenden Woche. Reynolds' Partei Fianna Fáil wählt heute wahrscheinlich den Finanzminister Bertie Ahern zum neuen Vorsitzenden. Die Labour Party berät am Montag über ihre Optionen. Londoner Regierungskreise setzen darauf, daß der Labour-Vorsitzende Dick Spring Außenminister bleiben wird. Alles andere, so sagte ein Regierungsbeamter, wäre eine Katastrophe, weil „Spring unsere Position versteht“ und den manchmal allzu forsch vorgehenden Reynolds gebremst hat. Zwar rechnet niemand mehr damit, daß die anglo-irische Rahmenvereinbarung über Nordirland wie geplant noch in diesem Jahr verabschiedet werden kann, doch ernsthafte Probleme wegen der Regierungskrise in Dublin erwartet man in London nicht.
Niall O'Dowd, der Herausgeber der einflußreichen Irish Voice in den USA, teilt diesen Optimismus nicht. Kein irischer Regierungschef hatte bisher soviel Einfluß im Weißen Haus wie Reynolds, glaubt er: „Es war das erste Mal, daß der irische und nicht der britische Premierminister beim US- Präsidenten auf offene Ohren stieß.“ Und geheimnisvoll fügt er hinzu, nur wenige Menschen wüßten über das ganze Ausmaß seiner Rolle beim Friedensprozeß Bescheid. Mit Sicherheit aber haben die guten Beziehungen zwischen Reynolds und Bill Clinton dazu beigetragen, die IRA zum Waffenstillstand zu bewegen und Verhandlungen eine Chance zu geben.
Ungeachtet des Rücktritts der irischen Regierung fand gestern in Dublin die dritte Sitzung des „Forums für Frieden und Versöhnung“ statt, das von den nordirischen Unionisten boykottiert wird. Die 39 Teilnehmer einigten sich darauf, bis Ende Februar wöchentlich zusammenzukommen und vor allem die sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen der Waffenruhe zu untersuchen. Die für Montag in Belfast geplante Sitzung der anglo-irischen Konferenz hingegen wurde abgesagt.
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