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TV-TipDie Aura des Spitzbarts

■ "Der kalte Patriarch". Aufstieg und Fall des Walter Ulbricht.

„Der kalte Patriarch.“ Aufstieg und Fall des Walter Ulbricht. Heute 23 Uhr, ARD

Die Stimme, diese hohe, niemals umkippende, scharfe Stimme im Idiom des sächsischen Industriereviers, dieses „jo“, das in belehrender Absicht jeden Satz mindestens dreimal unterbrach – plötzlich waren sie wieder da – in Tobias Banges und Reinhard Ruttmanns Portrait des Genossen Ulbricht. Es gab Republikflüchtlinge, die beim bloßen Erscheinen des Spitzbarts auf der Westglotze deren Scheibe einwarfen. Kein deutscher Politiker ist so inbrünstig gehaßt, über keinen sind so viele brillante Witze gerissen worden.

Stromsperre, Ulbricht liest bei Kerzenlicht „Staat und Revolution“. Er: „Loddä, isch hab hier ne sähr indresandde Schdelle gefundn: Do Gommunismus, das is die Sowjedmachd blus reisch mir mal die Gärze edwas riber.“ Bange und Ruttmann ist es gelungen, etwas von der Aura wiedererstehen zu lassen, die diesen fischblütigen Doktrinär umgab. Wir erfahren, daß er nicht nur ein kleinlicher Tyrann war, sondern auch ein Spießer, der Drehbücher umschrieb und die Sprengung von großen Monumenten der preußischen Baukunst veranlaßte.

Daß Ulbricht ein Widerling war, kommt also rüber. Was im dunkeln bleibt: Ulbricht war auch ein Revolutionär im Geist der Dritten Internationale. Ein Mann mit einem phänomenalen Kadergedächtnis, verschwiegen und der „Sache“ vollständig ergeben, mißtrauisch gegenüber den „Massen“, absolut skrupellos, von tiefem Haß auf die Bourgeoisie und den „Sozialdemokratismus“ geprägt. Und er war in der KPD keineswegs ein Mann im zweiten Glied gewesen, wie uns der Film suggeriert. Die Autoren fahren jede Menge Zeitzeugen auf, voran den überraschend scharfsinnigen Karl Schirdewan, Ulbrichts prominentestes Opfer, und einen weiteren, überaus telegenen Greis: Jürgen Kuczynski.

Aber das konzentrierte biographische und Expertenwissen vermag kein Licht auf die großen ungeklärten Fragen zu werfen: War Ulbricht von vornherein entschlossen, in der sowjetischen Zone „den Sozialismus“ zu errichten? Wie hing seine Rettung nach dem 17. Juni 1953 mit den innersowjetischen Machtkämpfen zusammen? War seine Ablehnung des Berlin-Abkommens wesentliche Ursache für seinen Sturz? Schade, daß die Autoren nicht den Ansatz einer Antwort versucht haben. Christian Semler

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