■ Russisches Selbstbild und westliche Projektionen: Land ohne Mitte
Rußland ist ein Zustand. Nichts anderes und nichts Harmloseres. Rußland erholt sich, es geht ihm besser. Die Phase der Selbstbescheidung klingt aus. Es gibt sich wieder natürlich, wie es ist – mit sich uneins und sich selbst der größte Feind. Die Zeit der „Lebenshilfe“ aus dem Westen sei vorbei. Übernommen ist, was zu übernehmen war. Auf gute Noten in Sachen „Demokratie“ und „außenpolitisches Wohlverhalten“ achten? Brauche man nicht mehr, sinniert der Kommentator der liberalen Tageszeitung Sewodnja. Als habe man gleichsam alles im Interesse der anderen getan. Partner sind gefragt, keine Mentoren. Die Kränkung sitzt tief, Rußland ist beleidigt. Der Unterton sagt es, Schuld tragen die anderen.
Keiner zwang Rußland zur bolschewistischen Revolution, keiner zerstörte die knirschende Sowjetmaschinerie, noch schreibt ihm heute jemand vor, welchen Weg es zu gehen hat. Ein Motiv beherrscht Rußlands Geschichte: Selbstbezichtigungen der Imitation. Leidenschaftlich wurde kopiert, ohne die Vorlage den eigenen Bedingungen paßfähig zu machen. Sodann folgte Enttäuschung, während flüchtige Betrachter den Eindruck gewannen, alles sei wie im Westen. Man führt ihnen Fabriken, Universitäten, Theater und Kultur vor. Benennungen. Keine Phase des wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritts in der Landesgeschichte, die nicht von ausländischen Fachkräften, Gelehrten und Experten maßgeblich vorangetrieben worden wäre.
Dabei besitzen die meisten Russen ein kaum zu übertreffendes Talent zur Improvisation. Man lese es nach bei Karl Marx. Rußland drückt sich um Selbstreflexion wie ein psychisch Kranker, der die Wahrheit mehr fürchtet als den Schmerz. Ein Verweis auf die kolossale Kraft des Metaphysischen oder auch nur der Einbildung. Und wir leisten Schützenhilfe, indem wir Mythen transportieren, die dieses Land von sich entwirft. Lyrische Verklärungen dessen, was anderswo schlicht Mangel an Vernunft heißt, Abscheu vor Kompromißbereitschaft, gepaart mit einem selbstherrlichen und selbstzerstörerischen Maximalismus.
Rußland kennt kein Maß, kann nicht maßhalten, ist maßlos. Darin ähnelt es einem Kind. Generationen von Intellektuellen suchten das mit der unendlichen Landmasse des Reiches zu erklären. Wo die Natur erbarmungslos jegliche Initiative schluckt, wo sich Geschichtsdichte pro tausend Quadratkilometer nicht messen läßt. Bis auf den Tag trägt das Volk nomadisierende Züge. Heimat, ja das war einmal die Große Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, waren deren heilige Grenzen, die kaum einer je zu Gesicht bekam, bei deren Anrufung er jedoch erstarrte. Innerhalb dieses Kontinents wurde er umhergestoßen oder zog von allein. Was er hinter sich ließ, war ein Werk der Zerstörung. Was er mit sich nahm, eine Projektion von Heimat, das innigste Verlangen nach etwas Heilem. Erdflüchtige Seßhaftigkeit. Man lausche im Fernsehen der Folklore und weide sich an Farben und fröhlichen Gesichtern. Dann fahre man in ein russisches Dorf...
„Das Wesen Rußlands besteht darin, daß es sich selbst nicht achtet“, schrieb Philosoph Wassili Rosanow vor knapp hundert Jahren. Rücksichtslosigkeit regiert heute den Alltag. Wir greifen zu einfachen Antworten: Reformen und Überlebenskampf zwängen die Menschen dazu. Muß er deswegen, wo er sich aufhält, Unordnung anrichten, was er nicht ausdrücklich sein eigen nennt, verwüsten, Land und Natur in eine festgefügte Kriegsfilmkulisse verwandeln?
Allen Unkenrufen zum Trotz geht es wirtschaftlich dennoch bergauf. Nie haben sich die Russen soviel nicht kaufen können wie heute. Doch leisten sie sich mehr als früher. Sie haben es vergessen. Damals hatte man Geld und keine Waren, kaufte alles. Jetzt gilt es, eine Auswahl zu treffen und sich zu bescheiden. In Moskau wurden in diesem Jahr über 300.000 neue Autos angemeldet, die Stadt steht vor einem Verkehrsinfarkt. Früher dominierten billige Importartikel, jetzt bevorzugen die Verbraucher teure Markenwaren. Sie können nicht alle Mafiosi sein, wie es die Medien hüben wie drüben stetig suggerieren. Der offizielle Durchschnittslohn stieg auf 120 Dollar. Doch staatliche Statistiken müssen lügen. Sie erfassen nämlich – zurückhaltend geschätzt – ein Drittel sämtlicher Wirtschaftsaktivitäten nicht, die sich im Schattenbereich entwickeln. Diese sind oft nur darin kriminell, daß sie keine Steuern zahlen. Es reicht hingegen aus, um Millionen Russen über die Armutsgrenze zu hieven.
Rußland zu einem Reich unumschränkter Mafiaherrschaft zu stilisieren vernebelt den Blick für das tatsächliche Geschehen. Erneut entsteht ein Mythos, den man mit aller Hingabe und Inbrunst pflegt. Unbestritten treibt die Mafia ihr Unwesen. Der Volksmund verwendet Mafia indes vielfach als Metapher oder gar Synonym dessen, was sich nicht erklären läßt. Manchmal scheint es der Neid zu sein, nicht dazuzugehören, der der Mafia so unendlich viel Aufmerksamkeit verschafft – nicht, wie man vermuten sollte, Abscheu und Empörung über kriminelle Machenschaften. Vielleicht auch nur die Sehnsucht nach einer „intakten“ sozialen Ordnung. Andere zu beschuldigen und ubiquitär Verschwörer zu wittern entbindet von Verantwortung. Der wirtschaftliche Aufwärtstrend hat diesen Hang nicht getilgt, das soziale Bewußtsein wandelt sich im Schneckentempo.
Rußland war nie ein homogenes Land, mehrere Jahrhunderte wirken in ihm synchron. Und doch gleicht es sich. Ihm fehlt das menschliche Maß, ein ziviler Code, ein Begriff von Menschenwürde. Der zivilisatorische Wandel verschlingt mehr Energien als der Wirtschaftsumbau. Seine Schwerfälligkeit offenbart sich deutlich im Abgleich mit den anderen Staaten Osteuropas. Die Parvenues führen ihren Reichtum in aller Widerlichkeit vor. Sie wollen anscheinend verletzen und erniedrigen. Man wundert sich, daß gewalttätige Übergriffe nicht viel häufiger geschehen.
Die Bevölkerung hat sich unterdessen aus der Politik verabschiedet. In der Mitte des politischen Kontinuums herrscht Öde. Kommunisten und Faschisten bilden keine gegensätzlichen Pole. Sie sind in Dictus und Ductus wesensgleich. Totalitäre Maulhelden, die unter Liebesentzug leiden. Man hört ihnen nicht zu. Die Abstinenz birgt hingegen einen gravierenden Nachteil. Die Menschen entwickeln keinen Bürgersinn. Zwar wurden sie beinah im Handumdrehen selbsttätige und -verantwortliche Wirtschaftssubjekte, darüber hinaus verweigern sie indes jegliche Partizipation. Universelle Belange berühren sie nicht. So bleiben sie anfällig für Vorurteile und einfache Lösungen.
Erstaunlicherweise zeigt sich die hypertrophe (Sowjet-)Intelligenz, die unter Anpassungsschwierigkeiten stöhnt, für antiwestliche Stimmungen und braune Parolen anfälliger als einfache Arbeiter. Rußland fehlt eine vermittelnde Mitte. Darin liegt die Gefahr, die alles zu einer Gratwanderung macht, und Rußlands Geheimnis. Vermutung: verschlungen von der unendlich tiefen russischen Seele. Klaus-Helge Donath, Moskau
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