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Mit Weltstoff vollgesaugt

■ „Munch in Deutschland“: Die Kunsthalle zeigt in Deutschland gemalte Bilder des nordischen Vaters der Moderne und dessen rohen Umgang mit ihnen

„Groteske Schmirakeleien eines Verirrten“ befand die Kunstkritik in Berlin 1892, und die Künstlerkollegen, die ihn eingeladen hatten, schlossen seine erste deutsche Einzelausstellung nach wenigen Tagen. Der Skandal machte den 29-jährigen Norweger Edvard Munch in ganz Deutschland bekannt. Zwanzig Jahre später wird er dann in das Pantheon der Klassiker erho- ben: Die Kölner Sonderbund-Ausstellung präsentiert ihn gleichberechtigt mit Cezanne, van Gogh und Gaugin.

In den Jahren dazwischen lebt der nordische Vater der Moderne neben Paris und seiner Heimat lange Zeit in Berlin, Lübeck, Hamburg, Thüringen und Warnemünde. Dem Werk jener Zeit ist die von Uwe M. Schneede zusammengestellte Ausstellung Munch und Deutschland gewidmet, die nach München seit gestern in Hamburg zu sehen ist. Mit fast hundert Bildern und ausgewählter Graphik entfaltet sich ein Spektrum der Wechselwirkungen von den Verklemmungen der Jahrhundertwende zur expressiven Malerei.

Munch drückt die bedrohlichen Gefühle seiner Epoche nicht mehr wie seine Kollegen Hans Thoma und Arnold Böcklin allegorisch mit Sturmwolken und frauenumschlingenden Schlangen aus, sondern symbolisiert sie durch Ausdruck und Konstellation der Personen. Inhaltlich bekennt er sich expressiv zu den Ängsten wie im zur Ikone gewordenen Bild Der Schrei und betreibt in teils experimenteller Technik die bewußte Auflösung der eingrenzenden Form.

Der Geschlechterkampf ist immer wieder sein Thema: Ein Kuß wird zur Verschmelzung der Gesichter, in den Armen der Frau aber werden die roten Haare zu Blutgerinnseln einer vampirisch empfundenen Beziehung. Munchs malerische Gemütserforschung findet zur gleichen Zeit statt, da in Wien ein Doktor Freud die Psyche analysiert. In dieser Konfrontation mit der Befindlichkeit einer Epoche lag der eigentliche Skandal, dies bleibt seine inhaltliche Modernität.

Nach den Kämpfen der neunziger Jahre hat Munch im neuen Jahrhundert zahlreiche deutsche Auftraggeber und Förderer. Um 1920 befinden sich beispielsweise in Hamburger Privatbesitz 15 Gemälde und mehr als 200 graphische Arbeiten Munchs. Doch trotz vieler Förderer verstummt die Kritik niemals ganz: Kunsthallendirektor Alfred Lichtwark etwa findet die Werke Munchs „zu alkoholisiert“. Die bellende Kritik ist in manchen Punkten durchaus nicht blind – allein es kommt auf die Wertung an: Wer die tatsächliche Befindlichkeit der Moderne leugnen und mit Ideologie übertünchen will, muß Geg–ner dieser Malerei bleiben.

Und diese Leute gewannen bekanntlich seit 1933 die Überhand: 1938 werden 82 Werke des „pathologischen Problematikers Munch“ (NS-O-Ton) aus deutschen Museen entfernt. Aber auch heute ist selbst bei solchen Klassikern der Moderne der Rezeptionsprozeß noch nicht beendet und kalte Kunstgeschichte geworden.

In einer für Hamburg vom Munch-Restaurator Jan Thurmann-Moe mit dem museumspäd–agogischen Dienst zusammengestellten Studioausstellung wird Munchs experimenteller Umgang mit seinen Bildern dokumentiert: Oft jahrelang setzte er sie ungeschützt Sonne, Regen, Schnee und Vogelschiß aus. Durch diese von ihm so genannte „Roßkur“ sollten sie eine natürlichere, matte Farbe erhalten und sich in metaphysischer Weise „mit Weltstoff vollsau- gen“. Der Erhalt für die Ewigkeit kümmerte dabei nicht. Doch diese Gedanken grausten die Museen, sie begannen nachträglich, Munchs Werke zu säubern, zu firnissen und so den Farbkontrast zu heben und die Oberfläche zu versiegeln. Erst im Lichte der aktuellen, Veränderungsprozesse beachtenden Kunst kann dieser experimentelle Teil des Munchschen Werks gewürdigt werden. Die Begleitausstellung mit teilweise erstmals gezeigten Bildern wird später im Munch-Museum verbleiben. Hajo Schiff

Bis 12. Februar 1995 in der Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall; Katalog 42 Mark

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