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Für die „Risikomenschen“

Das Basso-Tribunal klagt den Niedergang des Asylrechts in Europa an. Menschenrechtler tagen vor halbleerem Haus  ■ Aus Berlin Vera Gaserow und Jeannette Goddar

Die Angeklagten sind nicht erschienen. Ihr Verteidiger entschuldigt sich dreifach, daß er für sie Partei ergreifen muß. Der Urteilsspruch steht schon am ersten Verhandlungstag fest: „Schuldig“. Ein Schauprozeß also, der da vier Tage lang in Berlin stattfindet. Aber kaum jemand schaut.

Kein Scheinwerfer leuchtet den Richtertisch aus, keine Fernsehkameras drängeln sich vor der Anklagebank, und im Zuschauerraum ist gerade mal jeder zweite Stuhl besetzt. Die, die dort sitzen – meist junge Leute –, sind zwar nicht die Falschen. Aber es sind nicht die, die dort hingehörten. Herren in dunklen Zweireihern, mit Dienstwagen vor der Tür, würde man sich hierher wünschen, in die Alte Mensa der Technischen Universität. Denn genau sie geht das Sündenregister an, das da vorne vor dem Richtertisch aufgeblättert wird.

Zum 19. mal tagt das „Ständige Tribunal der Völker“ der Lelio- Basso-Stiftung, das sich als Nachfolgeorganisation des traditionsreichen Russell-Tribunals versteht. Das Tribunal hat sich für seinen symbolischen Prozeß ein Thema gewählt, das den Verstärkereffekt „Öffentlichkeit“ dringend nötig hat: das Asylrecht in Europa. Und es hat sich einen Gerichtsort gesucht, der zum Symbol des real-existierenden Zynismus gerät: Verhandelt wird in der Stadt der gefallenen Mauer über die neuen Mauern, mit denen sich „die Zitadelle Westeuropa“ abschottet vor Asylsuchenden, Bürgerkriegs-, Armuts- und Katastrophenflüchtlingen. Einen cordon sanitaire zum Schutz vor den „Risikomenschen“ nennt Hans Branscheidt von der Hilfsorganisation „medico international“ das in der Eröffnungsrede des Tribunals.

Das Engagement für „Risikomenschen“ scheint mit dem Risiko der öffentlichen Geringschätzung behaftet. Mit wenig Geld und großem ehrenamtlichen Einsatz haben einige Aktivisten ein Jahr lang am Zustandekommen dieses Tribunals gearbeitet. Kein Repräsentant der Gastgeberstadt hat sich zur Begrüßung herbemüht, kein offizieller Empfang würdigt die prominenten Teilnehmer des Tribunals, mit denen man sich eigentlich schmücken könnte. In der zehnköpfigen Jury sitzen Persönlichkeiten aus aller Menschen Länder: Da ist zum Beispiel Felicia Langer, die für ihr Engagement als Rechtsanwältin der Palästinenser in den besetzten Gebieten den alternativen Nobelpreis erhielt; da hat sich Madjud Benchikh, Professor für Völkerrecht an der Universität Algier, die Zeit genommen; da ist auch Vera Chirwa, die erste Rechtsanwältin und Jura-Dozentin Malawis, angereist, die bis zu ihrer Begnadigung vor einem Jahr zwölf Jahre lang als politischer Häftling im Gefängnis saß. Und da sitzt, neben Günter Wallraff, der 79jährige türkische Schriftsteller Aziz Nesin, der in seiner eigenen Person das Thema politische Verfolgung symbolisiert: Die beiden breitschultrigen Herren neben dem Podium sind angeheuert, ihn vor möglichen Anschlägen von islamischen Fanatikern zu schützen.

Angestrengt verfolgen die Jury- mitglieder, was Anklägerin, Länderexperten und Zeugen vortragen und was sich im Lauf der Verhandlung zum eindringlichen und kompetenten Zeugnis über den Niedergang des Asylrechts in Europa verdichtet. Die britische Anwältin Frances Webber verliest ihre Anklageschrift. Etwas krampfhaft auf juristische Formeln gebracht, lautet das Delikt: Verrat an den Flüchtlingen, an den Menschenrechten, an den humanitären Idealen der Demokratie. In geheimen Abkommen, so der konkrete Vorwurf, haben die Staaten der Europäischen Gemeinschaft sich gegen Asylsuchende verschworen und diese Vereinbarungen dann als faits accomplis ihren nationalen Länderparlamenten zur Absegnung präsentiert. Die europäische Einigung, die unendlich kompliziert ist, wenn es um Milchabgabequoten und Schadstoffgrenzen geht, meldet beim Asylrecht praktischen Vollzug: Für die Bürger von 129 Ländern haben die Staaten Westeuropas eine Visumpflicht eingeführt. Selbst wer aus dem Irak, aus Bosnien oder Ruanda flüchten will, braucht eine Eintrittskarte für Europa – und die sind in der Regel wegen Überfüllung ausverkauft.

Staatliche Sanktionen gegen Verkehrsunternehmen, die Menschen ohne Visum nach Europa bringen, haben zu menschenunwürdigen und lebensgefährlichen Situationen geführt: Die portugiesische Fluggesellschaft etwa, läßt die Pässe aller nichtweißen Passagiere kopieren und gibt deren Daten an die Behörden weiter. Flüchtlinge suchen Zuflucht hinter dem Etikett, für das das Prinzip der offenen Grenzen mehr denn je gilt: als Handelsware in Containern verpackt, die den Transport in zahllosen Fällen nicht überlebt.

Die westeuropäischen Staaten haben sich stillschweigend auf gemeinsame Rückschiebegründe geeinigt, die gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen – die sie selbst unterzeichnet haben. Fast jedes Land hat sein „sicheres Drittland“, dem man Asylsuchende zuschieben kann: Deutschland ist umgeben von einem Gürtel aus „Drittländern“. Das Nachbarland Holland hat Belgien, Belgien hat Frankreich, Frankreich hat Spanien, Spanien hat Marokko. In anderer Himmelsrichtung läßt sich diese Rückschiebekette beliebig verlängern.

In Schnellverfahren werden an europäischen Schlagbäumen und Flughäfen Asylgesuche entschieden – oft ohne Dolmetscher, ohne Rechtsbeistand, ohne fachkundiges Wissen der Beamten. Bei den Befragungen an der Grenze, so der französische Berichterstatter, „herrscht eine Inkompetenz, die tödlich sein kann“. Was Deutschland vor einem Jahr mit seiner umstrittenen Asylrechtsänderung festgelegt hat, ist inzwischen europaweit Standard: elektronische und militär-ähnliche Absicherung der Grenzen, Datenerfassung und potentielle Kriminalisierung von Flüchtlingen durch Abnahme von Fingerabdrücken, soziale Ausgrenzung durch Arbeitsverbote und gesonderte Unterbringung. Deutschland, das in der Vergangenheit mehr Flüchtlinge aufgenommen hat als alle anderen europäischen Länder zusammen, ist dabei nicht das Land mit dem restriktivsten Asylrecht. Aber es ist als bisheriges Hauptaufnahmeland Schrittmacher im europäischen „Wettlauf der Schäbigkeiten“.

Das Konzept einer Festung Europa wird Realität: Am vergangenen Wochenende stimmten die Schweizer für ein Gesetz, nach dem Ausländer ohne Aufenthaltsberechtigung bis zu einem Jahr in Haft gehalten werden können, wenn die Behörden sie verdächtigen, abtauchen zu wollen. Zeitgleich beschloß das niederländische Parlament am vergangenen Freitag nach heftigen Debatten die Einführung der Drittstaatenregelung zum 1. Januar 1995. Bereits seit diesem Sommer kontrollieren Spezialeinheiten der Militärpolizei Tag und Nacht die niederländisch- deutsche Grenze. Allein im August überprüften sie 50.000 Pässe. Tausende wurden zurück nach Deutschland geschoben.

Mit dem neuen Asylgesetz sind die Niederlande im Europa harmonisierter Einwanderungsbestimmungen spät dran: Innenminister Charles Pasqua setzte in Frankreich bereits 1993 massiv verschärfte Einreisebestimmungen durch. In Spanien wurde mit dem neuen Asylgesetz in diesem Jahr das 1964 eingeführte Recht auf Asyl aus humanitären Gründen abgeschafft und die Drittstaatenregelung eingeführt.

In ganz Westeuropa werden die Listen vermeintlich sicherer Dritt- und Herkunftsstaaten immer länger: In Deutschland gilt die Türkei als sicher, in Frankreich Algerien. Die Schweiz erachtet den Kosovo als sicher für Kosovo-Albaner und repatriiert Tamilen nach Sri Lanka. Aus Griechenland wurde bekannt, daß Iraker zurück in die Türkei und von dort in den Irak abgeschoben wurden. Aus Großbritannien wurden Iraner in die Türkei zurückgeflogen und von dort in den Iran deportiert. Aus Dänemark wurde bekannt, daß die Behörden mehrere Iraker zurück nach Rom geschickt haben, von wo sie über Tunesien wieder in den Irak verschleppt wurden.

Ungarn, das ebenfalls als sicherer Drittstaat definiert wird, erkennt grundsätzlich keine außereuropäischen Flüchtlinge an. Etwa eine Million Menschen wurden dort nach groben Schätzungen im Jahre 1992 an der Grenze zurückgewiesen. Im August 1992 gelang es 20 Afrikanern und Asiaten aus einem Lager außerhalb Budapests, in dem sie seit über einem Jahr interniert waren, einen Brief an die Außenwelt zu schmuggeln, in dem sie mit Selbstmord drohten, wenn sie nicht als Flüchtlinge anerkannt würden.

Die Anklägerin Frances Webber, die als Rechtsanwältin beim „Institute for Race Relations“ in London tätig ist, konfrontierte die Verteidigung mit einer ganzen Liste von zum Teil tödlichen Menschenrechtsverletzungen seitens der EU- und Efta-Staaten: Sowohl aus Großbritannien als auch aus den Niederlanden seien Fälle dokumentiert, wo Asylsuchende an den unmenschlichen Bedingungen in Auffanglagern gestorben seien.

Länderberichterstatter und Zeugen aus Deutschland, der Schweiz, Frankreich und Spanien vervollständigten das Bild. Insbesondere haitianische und algerische Flüchtlinge würden in Frankreich systematisch in die Illegalität gedrängt, erläuterte Jean-Pierre Alaux. Seit Ausbruch der Algerienkrise 1992 seien lediglich 39 Algerier als politische Flüchtlinge anerkannt worden. Der algerischen Rechtsanwältin Delila Meziane, die vor dem Basso-Tribunal als Zeugin geladen war, hatte die französische Regierung die Reise verweigert, um zu verhindern, daß sie in Berlin einen weiteren Asylantrag stellen könnte. Seit eineinhalb Jahren kämpft sie, die in Algerien wegen ihres Engagements für politische Frauen-Organisationen massiven Repressionen ausgesetzt war, darum, in Frankreich Asyl zu bekommen. Ihr erster Asylantrag wurde abgelehnt mit der Begründung, ihre Verfolgung sei vom algerischen Staat „weder ermutigt noch toleriert worden“.

Dabei ist sie eine der wenigen, die es überhaupt nach Frankreich schaffen: Die französischen Botschaften in Algerien seien als Reaktion auf ein Attentat geschlossen worden, so der Berichterstatter. Lediglich auf dem Schwarzmarkt kursierten noch Visumanträge. Auf denen wiederum könnten nach dem Multiple-choice- Verfahren vierzehn Gründe der Einreise angekreuzt werden – unter anderem berufliche, familiäre, touristische. Politische Verfolgung sei nicht darunter.

Am Montag wird die Jury ihr Urteil verkünden. Die Angeklagten werden es weder entgegen- noch wirklich zur Kenntnis nehmen. Und weil Staaten sich nicht verhaften und hinter Gitter sperren lassen, wird man andere Wege suchen müssen, sich der Täter zu erwehren. Doch während Minister und Staatssekretäre des zusammengewachsenen Europas auf Staatskosten mal in Rom, mal in Dublin konferieren, stößt die europäische Vernetzung von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen schnell an personelle und finanzielle Grenzen.

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