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Im dunklen Kino seines Körpers

Ein doppelbödiger Dichter, ebenso begabt im Übersehen der alltäglichen Wirklichkeit wie im genauen Sehen der alltäglichen Gewalt – Hans Henny Jahnn, Schriftsteller, Lebensreformer, Hormonforscher und Orgelbauer  ■ Von Genia Schulz

Hans Henny Jahnn wäre am 17. Dezember hundert Jahre alt geworden. Gefeiert wurde sein Geburtstag – von langer Hand geplant – in einigen großen Städten, ausgiebig in Hamburg, Jahnns Geburtsort. Theater, Film, Musik, Lesungen und ein literaturwissenschaftliches Symposion wollten den Autor umfassend würdigen. Ganz einfach scheint das nicht zu sein.

Die aktuellen Inszenierungen von Jahnns selten gespielten Dramen werden bemängelt und verrissen mit der Forderung nach Werktreue oder Polemik gegen den Text selbst. Im Feld deutender Lektüren treffen sich Kenner, Liebhaber, Anfänger, Theoretiker und Kritiker. Jahnns Gesamtwerk liegt liebevoll und gründlich ediert auf dem Tisch – immer noch teuer, weil einzeln nicht zu haben. Das alte Spiel von Entweder/Oder. Dennoch, der Weg ist frei für weitere Entdeckungen.

Denken, Fühlen, Wiederholungszwang

Jahnn war ein Phantast, der sich im Denken, Fühlen und Träumen keine Grenze von gesellschaftlichen Normen und Verbindlichkeiten setzte. Fixe Ideen, Obsessionen, Wiederholungszwang in der Wahl der Themen und Motive waren im Leben wie in seiner Kunst doppelbödig: einerseits eine Tendenz zum Übersehen der alltäglichen Wirklichkeit, andererseits ein „genaues Sehen“ der alltäglichen Gewalt. Jahnns Wunsch nach neuen gesellschaftlichen Zuständen, in denen der endlose Krieg zwischen Rassen und Klassen beendet wäre, hat ihn zur Gründung der lebensreformerischen „Ugrino-Gesellschaft“ geführt, die sich nicht lange hat halten können: eine kleine Utopie, erprobt mit Freunden. Jahnn erfand immer wieder neue Projekte, stellte sich selbst Aufgaben – sei es Orgelbau und Orgelrestauration oder naturwissenschaftliche Experimente wie seine selbst ertüftelte Hormonforschung. Letztlich war vieles dem Scheitern ausgesetzt, der Unmöglichkeit, einen festen Boden, klare Wegweisungen zu finden. Das Leben kam Jahnn nicht entgegen – vielleicht weil er Grenzen fürchtete. Seine vielschichtige Erotik mit Mann, Frau, Knabe und Pferd hatte glückliche Augenblicke – sein Verhältnis zum Tod im Leben machte ihn souverän. Aber das Gefühl, alles, was er wünschte und wollte, nur „halbiert“, wenn überhaupt zu bekommen, blieb ihm erhalten. Er wußte früh von seiner „Andersheit“. Das Motiv der Wunde, des Einschnitts in den Leib, ist Zeichen und Auszeichnung zugleich. Der kindliche Zustand auf der Schwelle zum Erwachsensein, den Jahnn sich erhielt, ermöglichte ihm, produktiv zu werden. Er wußte sich in einem Zwischenraum von männlich/ weiblich, Schöpfer/Geschöpf; er empfand sich als häßlich, unästhetisch und liebte das Schöne, was ihm immer wieder zukam: Seine frühen Beziehungen zuerst mit gleichaltrigen Jungen, dann seine große Liebe zu Gottlieb Harms, mit dem er die Reise in den Norden antrat, um den Einzug in den Ersten Weltkrieg zu verhindern, seine schönen Frauen Ellinor Philips und die ungarische Jüdin Judit Kárász, seine Freude an Knaben und schließlich seine Neigung zur weißen Stute machten sein Leben wechselseitig wechselhaft. Seine vielfältigen Tätigkeiten – zwischen Orgelbau und Aufbau eines Landlebens auf Bornholm während des Dritten Reichs und dem lebensbegleitenden Schreiben, das nie zu einem befriedigenden Ende kam – waren durch Abbruch, Aufschub und Scheitern gekennzeichnet. Dem Schriftsteller wurde der Erfolg eigentlich auf allen Ebenen verwehrt. Zu radikal, zu obszön, zu aggressiv fand man die Texte von Anfang an: „Mißlungen“ sagten die einen, „großartig“ die anderen. Das Lese- und Theaterpublikum war von Anfang an gespalten.

Dennoch, was im Leben schwierig bis unmöglich ist, kann in der Kunst möglich werden. Jahnns expressiv-surrealistische Bildersprache, seine verschriftlichten Wunsch- und Alpträume, seine entgrenzten Visionen von Erotik, Körperverletzung, offener Wunde als Spalt, vom Tod als vitalem Einschnitt ins Leben, wurden zu beherrschenden Motiven. Selige Abschweifungen und glückliche Augenblicke konnte er wie die Dunkelzonen der Sexualität beschreiben, ohne sich einzuschränken. So entstand ein neuer Wortschatz, eine zunächst zerklüftete Grammatik in den frühen Stücken und dem ersten Roman „Perrudja“ (1929). Die Hemmungslosigkeit im Ausdruck erschreckt teilweise noch heute, als ginge es um die nackte Wirklichkeit. Autoren wie de Sade, Sacher-Masoch, Genet und Pasolini haben letztlich eine aufmerksamere Aufnahme gefunden – vielleicht weil Jahnn als Außenseiter seine künstliche Natürlichkeit als Gabe und Fluch empfand und die sich selbst geschaffenen erweiterten Möglichkeiten im Leben als Bürde. Dieser Zwiespalt forderte von ihm, seine Visionen so auszudrücken, wie sie ihm vom Unbewußten zugetragen wurden. Jahnns Hauptwerk „Fluß ohne Ufer“ (30er/40er Jahre auf Bornholm entstanden) ist eine Romantrilogie – bestehend aus „Holzschiff“ als Vorlauf, der „Niederschrift des Gustav Anias Horn, nachdem er neunundvierzig Jahre alt geworden war“ sowie einem Epilog, der das Werk nicht abschließt und es damit zum Fragment macht. Fragmentarisch wie das Leben selbst. Nichts ist vollständig, alles bricht ab. „Fluß ohne Ufer“ ist ein gigantisches Projekt, das auf der Suche nach einer Ganzheit von Mensch und Kosmos eine imaginäre Wanderschaft unternimmt. Horn sucht sein Schicksal. Auch als er in einer Felsspalte für immer sein Grab gefunden hat, „lebt“ er mit versteinertem Pferd und Hund zusammen in der Geborgenheit der in sich ruhenden Natur weiter.

Schwarzer Ur-Grund, Mutter-Sprache

Jahnn hat seine Leiblichkeit, die Wünsche nach kreativen Vereinigungen mit einer ganz eigenen Sprache ausgedrückt und damit den immer wieder erfahrenen Verlust im Ausdruck aufgehoben – nicht zuletzt, um eine Distanz zwischen sich, seinen Ängsten und seiner Produktivität zu schaffen. Sein Schreiben sah er in Abhängigkeit mit seinem Unbewußten, dem schwarzen Ur-Grund, aus dem die Mutter-Sprache kommt. In seiner späten Novelle „Die Nacht aus Blei“ (1956) wird der Prozeß der Selbstreflexion im gespaltenen Ich auf surreal-traumhafte Weise in einen fast filmischen Ablauf gebracht. Während „Fluß ohne Ufer“ eine fulminante Selbstbeschreibung innerhalb der Motivkette von Liebe, Tod, Leib und Seele, Musik und Gewalt, Ruhe und Grab, Ausfahrt, Schiffbruch und Einfahrt in den Hafen eine Weltreise ins Imaginäre vollzieht, bietet die „Nacht aus Blei“ (schon im Titel ein Ende des Fließens) einen Durchgang und eine Erforschung der Räume als Abteilungen des eigenen Körpers. Eine Figur mit Namen trifft auf einen Jungen der „Anders“ heißt, einen Doppelgänger des eigenen Selbst, mit dem er in einer tiefschwarzen Nacht durch eine erloschene Stadt und über ein schneeweißes Feld läuft, den „anderen“ auf seinem Rücken. Dieser „Fremde“ führt ihn aus der Außenkälte ins Innere eines warmen Kellerlabyrinths, bis hin zum Tiefpunkt einer Schlafstelle: warm und dunkel – kaum läßt sich eine Kerze zum Leuchten bringen, alle Orientierung fällt aus. Am Bett bittet der „andere“ um einen Einstich in seinen Leib, er wünscht sich eine auf Dauer offene Wunde und eine Berührung durch die in die Wunde greifende Hand: eine Mischung von christlichen und orientalischen Mythen, die Vermischung von weiblichem und männlichem Körper: Eben diese Mischung ermöglicht die Erkenntnis einer Einheit, die nur über die Verletzung und den schmerzenden Eingriff zu bekommen ist.

Wie in einer Dunkelkammer für die Entwicklung von Filmen hat Jahnn, der den Stummfilm schätzte, sein radikal konstruiertes Stück „Straßenecke“ (1931) als ein „Filmoratorium“ mit Chorsprache konzipiert. Vielleicht hat er seine Träume wie Filme gesehen. Im dunklen Kino seines Körpers sitzend, sah er, was in seinem Inneren vorging: Horrorvisionen und Liebesekstasen, Vitalität und Tod, Lust und Leiden. Mit dem Blick durch das „Schlüsselloch der Sprache“ (Barthes) wurde Jahnns Sehen zur Seh-Lust, auch da, wo er ins Schwarze sah: das Angst-Zentrum im Auge, das Buñuels/Dalis Rasierklinge im Film vom andalusischen Hund durch den Einschnitt gebannt hat; die Macht des Blicks vernichtet.

Die Lebenshaltung „Stirb und Werde“ in seliger Sehnsucht (Goethe) hat Jahnns Arbeit in Bewegung gehalten. Alle Möglichkeiten des Verfehlens, Entgleitens, Übertreibens ins Sinnlose hat er eingebaut in sein Werk und dabei seine Tastatur gefunden: Seine Sprache und seine Motive haben einen Orgelton, über dem die immer neuen Klänge sich zusammenfinden. – Im Herbst 1959 ist Hans Henny Jahnn in Hamburg gestorben. Begraben ist er unter einem Findling, zusammen mit seiner Frau Ellenor und seinem Freund Gottlieb Harms.

Jahnn jetzt. Wird hier eine germanistische Bildungslücke geschlossen und eine Forschungslücke eröffnet, eine Wiederentdeckung gefeiert, ein Versuch gestartet, sich mit dem fremden Autor bekannt zu machen? Unbekannte Texte als Überraschung auf dem armen Büchermarkt? „Perrudja“ und „Fluß ohne Ufer“, die „Nacht aus Blei“ und „Jeden ereilt es“ hatten einen festen, wenn auch sehr kleinen Leserkreis. Dagegen hat das Theater sich weitgehend zurückgehalten. Gerade weil ihm ein Eingriff in den Text durch Regie und Spiel möglich ist, kann die Schnittwunde im Text-Körper produktiv werden: Weggeschnittene Passagen, gestrichene Figuren, verschobene Konstellationen sind hier möglich, das Werk in seinen überbordenden Ausmaßen kann viel vertragen.

Jahnn ohne Vorurteil zu lesen heißt: das Werk in seiner Widersprüchlichkeit und Rätselhaftigkeit, seiner faszinierenden Sprachgewalt und seinen abgründigen Bildern zu sich kommen zu lassen. Jahnn steht zur Zeit im Licht und sollte da auch vorläufig bleiben – fast alles eine Frage der Beleuchtung.

Im Verlag Hoffmann und Campe liegt jetzt vollständig die „Hamburger Ausgabe“ in elf Bänden vor. Zum Geburtstag ist eine „Einmalige Jubiläumsausgabe“ erschienen. Acht Bände in Kassette, 4.408 Seiten, 248 DM. Sie enthält die Dramen, „Perrudja“, „Fluß ohne Ufer“ und „Nacht aus Blei“.

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