: Nadelstiche gegen die Treuhand
Die Breuel-Behörde löst sich auf – die Wäschefirma Graziella überlebt als Arbeitsbeschaffungsgesellschaft M&M für ältere Frauen ■ Aus Burgstädt Detlef Krell
Noch bis Ende April hat Christel Zückler diesen Job. Sie sitzt an einer Nähmaschine, DDR-Marke Textima, und schiebt eine dottergelbe Pluderhose unter die Nadel. Zwei links, zwei rechts, dann wandert das Stück auf dem Band zur nächsten Nähmaschine. Den letzten Stich bekommt es von Silvia Kaufmann verpaßt. Die Näherin legt Hose um Hose auf einen leuchtenden Stapel. „Früher“, sagt sie, „war ich im Clara-Zetkin- Werk“, das gibt es längst nicht mehr. Heute näht sie bei M&M. Ihr Arbeitsvertrag reicht bis Juli.
Eine Kollegin packt rote Plisseeröcke in einen Drahtcontainer. Am Fenster warten Körbe voll seidig glänzender Jacken. Grelle Tupfer in der grauen Fabriketage. Zwölf Frauen nähen heute Faschingskostüme. Kürzlich lagen noch Weihnachtsmannmäntel auf dem Band, in ein paar Tagen wird es wohl wieder Wäsche für das Sozialamt sein. Bei rund 1.800 Mark brutto verdienen sie hier. M&M ist eine Arbeitsbeschaffungs-Förderungsgesellschaft mbH, die größte Firma in der kleinen Stadt.
„Wir sind in einem schlechten Alter“, meint Christel Zückler. Für den Vorruhestand zu jung, für einen Neuanfang zu alt. Drei von vier Frauen in der Chemnitzer Region sind arbeitslos, 92 Prozent der in der Firma beschäftigten Frauen 45 Jahre und älter. Geschäftsführerin Sabine Lindner weiß: „Wir sind der verlängerte Arm des Arbeitsamtes.“
Als M&M Burgstädt im Sommer 1991 gegründet wurde, standen drei Textilwerke der Chemnitzer Region vor dem Ende. 1.200 Frauen von Graziella Burgstädt, Strickwaren Rabenstein und Lößnitz Kleidung wurden übernommen. Etwa jede zweite lernte dann einen neuen Beruf, andere überbrückten die Zeit bis zum Vorruhestand mit Kurzarbeit Null.
M&M will die Förderlandschaft nutzen und sich zugleich Standbeine für den freien Markt schaffen. 89 Dauerarbeitsplätze sollen in ausgegründeten Firmen oder erwerbswirtschaftlichen Zweigen neben der Beschäftigungsgesellschaft eingerichtet werden. Dem Unternehmenskonzept zufolge könnte M&M außerdem 380 Frauen über ABM oder Förderung nach Paragraph 249h beschäftigen.
Die musealen Nähmaschinen von Christel Zückler, Silvia Kaufmann und den anderen Frauen am Band sollen Dauerarbeitsplätze am freien Markt werden. Noch zahlt das Arbeitsamt Zuschüsse zur Förderung von Frauen über 50. „Wir wollen auch in die Produktion investieren und einen eigenen Vertrieb aufbauen“, kündigt Geschäftsführerin Martina Thein an. „Zur Zeit verarbeiten wir Restmaterial aus den alten Firmen“ – zu Kleidung für Behinderte, Allergiker, Textilien für soziale Einrichtungen, Flüchtlingsheime, Kindergärten.
Die Arbeitsbeschaffungsgesellschaft betreibt auch eine Designschule und wäscht Wäsche, führt Copyshop und Schreibbüro, kocht Essen und hilft bei Behördengängen. Arbeit kann sie genug beschaffen für die derzeit 251 Beschäftigten. Der Umsatz jedoch reicht nur knapp für die Betriebskosten. Und für die abgewrackten Fabrikgebäude mitten in der Stadt wollen westliche Alteigentümer Cash sehen. „Was in einem Jahr sein wird“, gesteht die junge Chefin, „das wissen wir nicht.“
Sabine Lindner war noch Betriebsratsvorsitzende von Graziella, als der Liquidator zu der Firma kam. Mit einem fertigen Konzept in der Tasche hatte der Betriebsrat bei der Treuhand auf der Matte gestanden. „Uns war klar, entweder wir nehmen den Laden selbst in die Hand oder irgendwelche Wessis knipsen uns das Licht aus.“ Die Treuhand stimmte zu, von ihren beiden Liquidatoren blieben nur die Anfangsbuchstaben im neuen Firmennamen: M&M. Sabine Lindner nahm das Geschäft in ihre Hände, gleichberechtigt mit Martina Thein, der einstigen Buchhalterin. Geld brachten die von M&M übernommenen Textilarbeiterinnen mit. Ihre Sozialabfindungen sammelten sie in einem Fonds, und von den Zinsen wurde die Kurzarbeit Null finanziert.
Der Bürgermeister des 13.000-Einwohner-Ortes Burgstädt bekommt Listen mit dem Umschulungsprogramm des Unternehmens und allen ABM-Kräften zugestellt. Investoren, die im Rathaus nach den Grundstückspreisen fragen, werden so auf kurzem Wege gleich über die Qualitäten der BurgstädterInnen informiert. In den letzten beiden Jahren aber fanden nur 32 M&M-Beschäftigte auf diesem Weg eine feste Anstellung.
Vor dem Büro der Geschäftsführerinnen hängen noch Werbetafeln aus DDR-Zeiten. Model- Grazien mit Graziella-Wäsche, die damals in den Export ging, zu Neckermann und Quelle und in die Sowjetunion. „Mit hochwertiger Wäsche“, sagt Martina Thein, „hätten wir keine Chance mehr. Da fragen die Leute doch nach Markennamen.“
So nähen sie, die auf dem freien Markt sonst niemand mehr haben will, für die Ausgesonderten dieser Gesellschaft. Abnehmer für die Weihnachtsmannmäntel war das Sozialamt, Knecht Ruprecht – beliebter Feiertagsjob für Sozialhilfeempfänger, männlich. Sabine Lindner will optimistisch bleiben, denn „sonst wären wir heute gar nicht hier. In den alten Bundesländern gibt es solche Arbeitsbeschaffungsgesellschaften schon sehr lange. Dort werden daraus Sozialbetriebe, „mit ganz anderen Mitteln, als wir sie jetzt haben“.
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