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Jesus, Hertha – alles Schweine

Selbstgespräche im Pressecafé am Bahnhof Zoo: Nachts diskutieren erfahrungsgezeichnete Männer die Wichtigkeiten dieser Welt  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Das durchgehend geöffnete „Pressecafé“ am Bahnhof Zoo ist der erste Ort, an den es den Reisenden nach seiner Ankunft verschlägt; eine Art Zwischenraum, herausgebrochen aus der benutzbaren Zeit, in dem der Reisende gedankenverloren verweilt, wenn ihn keine Termine jagen. Am Ende oder Anfang einer eher trostlosen Sechziger-Jahre-Passage aus Pfandhaus, Fußballerkneipe, Sexshop, Disco und Pressezentrum mit Pornoecke, warten hier Kirschbaumholz und Konsolen, auf denen Vasen, Porzellanhunde und Bierhumpen friedlich nebeneinanderstehen. Sie suggerieren Gemütlichkeit und ein gewisses Angekommensein.

Tagsüber ist alles normal. Touristen und Omas bestimmen die Szenerie. (Eine Freundin behauptet übrigens steif und fest, daß die Mehrzahl von Oma korrekterweise „Omen“ lauten müßte.) Im gelbbraunen Halbdunkel der Nacht allerdings vermischt sich hier alles aufs seltsamste. Erfahrungsgezeichnete Männer um die vierzig, denen man alles mögliche zutraut, stehen am Tresen und besprechen die Wichtigkeiten des vergangenen Tages.

Andere trauern biertrinkend einem sinnlosen Abend nach, junge Frauen sitzen mit Espresso und Zigarette am Fenster und starren melancholisch hinaus, als wär's ein Film, in dem sie ihren Auftritt verpaßt haben. Draußen, im Zentrum eines Dreiecks aus Pressecafé, Imbiß und Disco stehen türkische Jungs mit ihren blond dauergewellten Freundinnen im grellen Licht. Bewegungslos posieren sie oft viertelstundenlang und warten. Auf irgend etwas.

Viele Männer, die nach Mitternacht das Pressecafé aufsuchen, sprechen nur mit sich selbst. Zum Beispiel Klaus, ein kräftiger Mitfünfziger, der irgendwann gegen drei Uhr am Morgen das Café betritt. Verloren und irgendwie losgelöst von seiner sonstigen Mimik lächeln seine irritierend schmalen Lippen durch die Gegend, bis sie auf jemanden treffen, der zurückschaut.

Dann beginnt er in Richtung potentieller Gesprächspartner zu sprechen; das heißt zu schimpfen: auf „rote Socken“ und vor allem auf die „Firma Horch und Guck“. (Gesprochen klingt das übrigens genauso debil und ausgedacht wie geschrieben.) Die Stasi hätte jedenfalls wahlweise sein „ganzes“ oder auch „halbes“ Leben zerstört. Konkreter will Klaus aber nicht werden.

Konkreter wird er nur in seinen Phantasien, wenn sein Zufallsbekannter sich nicht abwendet. Mielke zum Beispiel würde er am liebsten foltern. „Heißes Eisen in die Augen drücken.“ Es dürfe „nicht langsam gehen“. Überhaupt hätte man alle SED-Mitglieder vor fünf Jahren „aufhängen“ oder „an die Wand stellen“ sollen.

Manchmal lallt Klaus ein bißchen. Ab und an fallen seine Sätze ins völlig Unverständliche. Bier kommt vorbei. Ein bißchen läuft leicht daneben und tropft dann vom Kinn.

Verschwörerisch zeigt er auf ein paar Männer, die am Tresen stehen. „Stasi! Die denken, sie können hier gemütlich ihr Bier trinken. Doch ich erkenne die.“ Zeitweise vermutet er auch in mir eine Art Spion, dann ermuntert er mich zu einem weiteren Bier. Fast beiläufig und nicht ohne Stolz berichtet er, daß er freiberuflich und unentgeltlich bei einem „Geheimdienst“ arbeite und potentiellen Interessenten Material zur Verfügung stelle über Stasi-Leute, die in seinem Haus wohnen würden.

Fast jeden meiner Versuche, selbst was zu sagen, blockt er mit einem „Das stimmt doch alles nicht!“ ab. Dann verschwindet er. Es ist sechs Uhr am Morgen. Vier junge Raver kommen und bestellen Kaffee. Der Kellner spielt „Let's talk about Sex“.

Herr Schumann spricht von anderem. „70 werde ich heute. Da kann ich mir wohl mal einen saufen.“ Bier und Korn. Der kräftige Mann mit dem vierschrötigen Gesicht schwankt zwischen Volksrede und Selbstgespräch. Sein Monolog hat durchaus musikalische Strukturen. Alle halbe Stunden wiederholt sich zum Beispiel das Jesus-Motiv: „Kennst du Jesus von Nazareth? Das war der größte Verbrecher der Welt. Gottes Sohn!?! Glaubst du, daß dieser Jesus von Nazareth Gottes Sohn war? Nein! Glaubst du an den? Ich nicht! Der war Zimmermann und Schwerverbrecher. Glaubst du an den?“

Kurz blickt er auf, um zu kontrollieren, ob man ihm zuhört. Gegenblicke nimmt er als Aufforderung weiterzureden. „Berlin ist die größe Verbrecherstadt der Welt. In der Turmstraße haben die letzte Woche eine Frau im Rollstuhl überfallen. Kannst du dir das vorstellen? Unter Hitler hätte es das nicht gegeben. Einfach den Kopf ab! Dann wär' das erledigt.“

Wenn er Hitler sagt, wird er etwas lauter, als sichere Hitler größere Aufmerksamkeit. Wenn alle ein bißchen angewidert gucken, relativiert er seinen Hitler. Mit den Juden jedenfalls sei das nicht so gut gewesen, aber „jeder macht nun einmal Fehler. Du nicht?“ Juden, das seien „gute Menschen“. Auch „Chinesen“, meint er mit fast begehrlichem Seitenblick zu einem anderen Tisch, an dem junge Asiaten sitzen. „Gute Menschen. Immer sauber und ordentlich.“ Und der dunkelhäutige Kellner, dem er mit einem „Ich geh ja gleich“ zuvorkommt, sei „der beste Kellner der Welt“.

Nur die „Polacken“, die seien verantwortlich dafür, daß Berlin zu einer „Verbrecherstadt“ geworden sei. Und „diese Nuttenweiber. Sieh dir die Nuttenweiber da draußen nur mal an.“ Herr Schumann deutet verächtlich auf Frühaufsteherinnen, die vor dem Fenster aus dem U-Bahn-Eingang herauskommen. „Oder Hertha – alles Verbrecher. Gibt es denn so was, eine Hauptstadt ohne Bundesligamannschaft.“

„Im Krieg war ich ja bei der Luftwaffe“, sagt Herr Schumann. „Krieg ist was Schlimmes. Neben mir wurde einem die Hand abgerissen. Muß das sein? Traurig ist das. Aber so sind die Menschen. Der Mensch ist wie 'ne Ratte. Politiker sind Verbrecher. Den kleinen Kindern, die in Afrika Kohldampf schieben, helfen die nicht.“

Zuhörern offeriert der rotgesichtige alte Mann, der sich „im Wald“ am besten fühlt, „am liebsten“ Tiere beobachtet“, aber auch „gern“ ins Fußballstadion geht, mehrere biographische Angebote. „Ich bin ja in Herne geboren“, sagt er, um wenig später zum gebürtigen Lichtenberger zu werden. Er sei Fußballnationalspieler und auch ein bekannter Boxer gewesen. In seiner Hosentasche trägt er eine Pistole. Jetzt lebt er in einer 27-Quadratmeter-Wohnung. „Das reicht mir.“

In seiner Freizeit malt er „mit Öl – kennst du das?!“ Seine Spezialität sind „Frauen mit drei Titten“. Zum Abschied gibt er mir eine Skizze.

Die Morgensonne scheint in den Zigarettenrauch der Gäste. Während ich nach Haus gehe, beginnt Herr Schumann von neuem: „Kennst du Jesus von Nazareth? Das war der größte Schwerverbrecher der Welt. Das größte Schwein aller Zeiten ...“

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