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Jesus? Auch nur altes Marzipan

■ Dürrenmatts Werk in Wort und Bild in einer monumentalen Ausstellung in der Akademie der Künste

Ein grinsender Plastik-Karl- Marx in schwarzem Festtagskleid auf einer bunten Spieldose. „Karl Marx spielt und tanzt für Sie DIE INTERNATIONALE“ steht darauf. Die Spieldose soll auf Friedrich Dürrenmatts Schreibtisch gestanden haben. Heute steht sie als eine von unzähligen Reliquien in der Dürrenmatt-Doppelausstellung, die gerade in der Akademie der Künste zu sehen ist. Zusammengefaßt hat man hier „Querfahrt. Das literarische Werk“ aus dem Schweizer Literaturarchiv in Bern und „Portrait eines Universums. Das zeichnerische und malerische Werk“ aus dem Kunsthaus Zürich.

Dürrenmatts Schreibtisch mit der Karl-Marx-Spieldose. Da wird er dann gesessen haben und hat ihn ein wenig für sich tanzen lassen, den kleinen Weltumstürzler, der die bestmögliche Wendung der Weltgeschichte erdenken wollte. – Lächerlich! – und blickte auf den Genfer See und dachte sich eine „schlimmstmögliche Wendung“ nach der anderen aus.

Das war der Tenor jedes Werkes, das Friedrich Dürrenmatt schuf: „Eine Geschichte ist erst dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“ Das gilt für seine Kriminalromane, für die Bilder, Gedichte, seine Dramen. Jedes seiner unzähligen Gemälde, die man in der Ausstellung passiert, bemüht sich, eine noch etwas grausigere Wendung zu nehmen. Im Ehrgeiz eines jeden, die apokalyptischste Apokalypse darstellen zu wollen, wirken sie auf Dauer heillos komisch oder einfach nur langweilig.

Eigentlich hatte Friedrich Dürrenmatt ganz früh schon, in erster Künstlerstunde sozusagen, die schlimmsten Wendungen seiner Werke gefunden — in der Schriftstellerei ebenso wie in der Kunst. In der Studentendachkammer im Hause seiner Eltern nämlich hatte er die Tapeten in grellen Farben mit apokalyptischen Wandmalereien bedeckt.

Von entsetzten Nachmietern wurden diese frühen „Dürrenmatts“ sofort übertüncht. Mittlerweile hat ein eigens bestellter Restaurator den Originalzustand dort wiederhergestellt. Und für die Ausstellung wurde die Dachkammer aufwendig rekonstruiert.

„Ich malte“, so steht es im „Turmbau“, dem zweiten Band der „Stoffe“, „die Mansarde aus, auf der abgeschrägten Wand über meinem Bett eine wilde Kreuzigung, an der großen Wand skurrile Figuren, am Kamin in der Mitte des Raumes eine Salome mit dem Kopf Johannes des Täufers, an der Decke das Antlitz der Medusa.“

Und kurz davor, Weihnachten 1942, hatte er „wie im Rausch“ seine erste Erzählung geschrieben, eine Weihnachtsgeschichte vom toten Gott: „Ich sah einen Körper auf dem Schnee liegen. Es war das Christuskind. Ich biß ihm den Kopf ab. Altes Marzipan. Ich ging weiter.“

Schlimmere Wendungen hat Dürrenmatt in seinem späteren Leben dann nur noch im Weltraum gefunden: verglühende Sonnen, verschwindende Galaxien, seine geliebten Sterne. In der Ausstellung ist dafür ein kleiner dunkler Raum hergerichtet, an den Wänden aus blauem Filz eine riesige Sternkarte, in der Mitte des Raums das Teleskop des Meisters, und irgendwo aus Myriaden von Sternen in ewiger Finsternis schallt des toten Dichters Stimme und liest aus seinen Werken.

Vier Jahre ist er jetzt tot, der Dramatiker, der zusammen mit Max Frisch in den fünfziger Jahren das deutschsprachige politische Theater inspirierte. Jetzt wird er heiliggesprochen, nachdem er schon zu Lebzeiten mit einer Gesamtausgabe seiner Werke zum Klassiker erstarrte. Die Ausstellung zeigt eine biographische Diashow, Videos seiner Theaterinszenierungen, Hörspiele, unzählige Porträts, Gemälde, Erstausgaben, Briefe und Fotos von seinem Weinkeller und aller seiner Freunde. Fragen bleiben keine, das Gesamtkunstwerk Dürrenmatt ist errichtet. Volker Weidermann

Bis 18.1., täglich von 10 bis 19 Uhr, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Tiergarten.

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