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„Das Hätte liegt im Bette“

Berühmt hatte sie werden wollen, weltberühmt sogar: Julia Marcus, die bei ihrem großen Vorbild Mary Wigman Ausdruckstanz studierte. Sie tanzte sich von Berlin über Zürich und Wien nach Paris, wo die 89jährige heute lebt  ■ Von Katja Nicodemus

„Da hab' ich direkt 'nen Vogel. Die große, weite Welt, das war meine Sehnsucht.“ Als umjubelte Tänzerin sah sich die fünfzehnjährige Julia Marcus in ihren Träumen, auf Stippvisite im heimischen St. Gallen, Freunden und Nachbarn von rauschenden Erfolgen in Paris erzählend. Die zielstrebige Göre schert sich einen Dreck um das Gerede in der sittenstrengen Kleinstadt, finanziert sich die Tanzstunden als erstes weibliches Aktmodell. Skandalös auch der erste Kleinstauftritt um 1920 am Stadttheater. Prompt platzt im Richard-Strauß-Ballett auf offener Bühne der Büstenhalter. „Da war meine Mutter im Parkett der Ohnmacht nahe“, freut sich die mittlerweile 89jährige Julia Marcus noch heute in ihrer Wohnung im gutsituierten Pariser Vorort Massy.

„Kurz und gut: Ich hatte beschlossen berühmt, womöglich sogar weltberühmt zu werden. Also packte ich den Rucksack und kratzte die letzten Franken für die Bahnkarte nach Zürich zusammen, wo die Labanschule lockte.“ Barfuß ergeben sich hier reiche Bürgerstöchter den extravaganten Bewegungsübungen von Rudolf von Laban, einem Begründer der neu entstandenen modernen Tanzbewegung. Julia verdient sich alles selbst – ein ungeheiztes Zimmer durch Modellstehen, das Schulgeld mit Büroarbeiten.

Naserümpfen über den Spitzentanz

Da keinerlei ästhetische Gesichtspunkte und Bewertungen gelten, ist an der Labanschule jede Verrenkung erlaubt, wenn sie nur aus dem Innern kommt und überzeugend wirkt. Die unorthodoxe, expressive Methode entspricht Julias Naturell: „Mit Wonne hab' ich mich in diese Befreiung gestürzt. Manche empfanden dieses sich selbst Bloßstellen als peinlich und beschämend. Oft sah man die Betroffenen mit Tränen in den Augen an der Wand des Tanzsaals lehnen.“ Über den klassischen Spitzentanz rümpft Julia bald die Nase, angesichts der aufregenden Avantgardebewegungen erscheint er ihr gar als gotteslästerliche Handlung.

Im ausverkauften großen Stadttheater von Zürich dann die Erleuchtung: Gebannt erlebt die Achtzehnjährige Mary Wigman, die Königin des Ausdruckstanzes. „Nie wieder habe ich eine Tänzerin erlebt, der es gelang, mit zwölfminütigen Tänzen ohne jede musikalische Begleitung ein Publikum so in den Bann zu schlagen, daß man eine Maus hätte über die Bühne huschen hören. Sie war einfach eine Magierin.“ Die Wigmansche Ausstrahlung zieht Julia 1925 nach Dresden, in die Schule der magischen Mary. Im Gegensatz zur bürgerlich-etablierten Zürcher Labanschule mit ihren rotbackigen Schülerinnen war die Domäne der Wigman von der Aura des Skandalösen umgeben. „Man konnte schon von weitem das Dröhnen der Gongs, die Trommeln, das Hämmern des Klaviers und das Stampfen der Füße hören. Für die Dresdner war das natürlich ein Schreck, man zeigte mit Fingern auf das Gebäude und die Wigmanschülerinnen, die schon von weitem durch fliegende Haare, Strumpflosigkeit und bleiches Aussehen zu erkennen waren.“ Großzügige Freunde ermöglichen Julia ein weitgehend sorgloses Studium, während viele der Mitschülerinnen ein ärmliches Dasein fristen. „Es lag viel Verzweiflung und Zynismus in der Luft. Die Zukunft schien eher verhängt, denn der Siegeszug des modernen Tanzes an den Opernbühnen hatte noch nicht oder kaum begonnnen.“

Dennoch wird die Wigman von ihren barfüßigen Tanzjüngerinnen bedinglungslos verehrt: „Mary hier, Mary da, Mary war einfach die Göttin.“ Neidisch bestaunt man die Meisterschülerinnen, die, ungeheure Ehre, von der Göttlichen selbst unterrichtet werden. Die übrigen sehen sie nur bei Vorträgen, Schülerabenden und dem jährlichen Schulfest. Solostunden kosten zwanzig Mark, für die meisten unerschwinglich.

Aus Sparsamkeit die kleinsten Büstenhalter

„Damals fragte ich mich manchmal, ob ich mit dem Tanzen den richtigen Beruf gewählt hatte, denn ich tanzte sehr unterschiedlich. Da ich beim Improvisieren völlig der momentanen Eingebung folgte, konnte ich hinterher die gleichen Bewegungen nicht wiederholen. Die unbedingte Spontaneität war für mich nicht fixierbar.“ Nach bestandenem Examen – einschließlich schriftlicher Prüfung zum Thema „Der Tanz, sein Ausdruck und seine Formgestaltung in Beziehung zum Zeitgeist“ – bleibt Julia ratlos.

Einige Meisterschülerinnen werden von Mary Wigman nach Berlin an die Städtische Oper vermittelt. „Mich hat sie wohl nicht als besonders begabt empfunden, ich war an der Schule höchstens dafür bekannt, aus Schweizer Sparsamkeit die kleinsten Büstenhalter und Tanzhosen zu besitzen.“ Durch Zufall ergibt sich doch noch ein Vortanzen bei Lizzie Maudrick, der Ballettmeisterin der Oper. Noten für den Pianisten besitzt das Fräulein Marcus keine, ausgearbeitete Tänze hat die Radikalimprovisateuse auch nicht auf Lager. Nur zwei Volkslieder, von Hand abgeschrieben. Ein zünftiges Jägerlied – und dann ein Lied vom Tod. Lizzie Maudrick kommentiert: „Sehr stark im Ausdruck“ und bietet ihr einen Vertrag an. In einem Anfall künstlerischen Irrsinns besteht die namenlose Fastengagierte darauf, an der Oper immer barfuß aufzutreten, um die Maximen der Tanzrevolution von Mary Wigman und Isadora Duncan ja nicht zu verraten. Das Zureden der Maudrick und die Aussicht, öfters warm zu essen, katapultieren sie zurück auf den Boden der Tatsachen und auf die Bühne der Städtischen Oper.

Mit der nicht gerade kreativen Arbeit als kleine Ballettstatistin ist Julia bald unzufrieden. Nachmittags probt sie allein im Ballettsaal, erarbeitet ihr eigenes, dem Ausdruckstanz verschriebenes Programm. Im Kabarett der Komiker am Kurfürstendamm zeigt sie mit einer riesigen Maske „Sunny Boy“, eine Parodie auf den schwarzgeschminkten amerikanischen Sänger Al Johnson. Hin und wieder tanzt Julia auch auf Arbeiterveranstaltungen. „Da war das Publikum viel näher und wärmer als in der Städtischen Oper, wo man eigentlich nie so recht wußte, für wen man tanzte.“ Nach solchen Auftritten sitzt sie im Zuschauerraum, hört Reden, die Gedichte Erich Weinerts, die Lieder von Ernst Busch und Hans Eisler. Sie wird Mitglied der KPD – „aus Überzeugung und weil ich vielleicht meine Mutter erschrecken wollte. Ein bißchen auch aus einer enttäuschten Liebe heraus.“ Julia gehört jetzt zur kommunistischen Betriebszelle der Städtischen Oper. Mit hochgelegten Beinen träumen die tanzenden Kommunistinnen in den Auftrittspausen von himmlischen Zuständen nach der Revolution: selbstbestimmte Gehälter, Schwangerschaftsurlaub, Kinderkrippe.

Im Herbst 1931 tritt Julia zum ersten Mal in Werner Fincks Kabarettkeller „Die Katakombe“ auf, einer der renommiertesten Kleinkunstbühnen im Vorkriegsberlin. Zusammen mit Rudolf Platte, Theo Lingen und einer bunten Kollegentruppe drängt sie sich in der winzigen Garderobe. Bald arbeitet Julia ihre politischen Überzeugungen auch in die Auftritte ein. Zum Repertoire gehört zum Beispiel „Die Nähmaschine“, eine Nummer, in der sie den mechanischen Tretrhythmus und die Erschöpfung einer Näherin nachahmt. Als lebendiges Hakenkreuz hüpft sie in einer Hitler-Parodie zum Gladiatorenmarsch über die Bühne der Katakombe. „Obwohl etwas Bedrohliches in der Luft lag, nahmen wir die Nazis noch nicht richtig ernst. Einen solchen Bären wie den Antisemitismus, das konnte man doch niemandem aufbinden – denkste.“ Wie Kinder, denen man endlich erlaubt, wieder Indianer zu spielen, kommen ihr die fackelschwenkenden Berliner nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler vor. „Als ich dann versuchte, in Opernkreisen für die antifaschistische Einheitsfront zu werben, und bei Juden auf Hitlers Antisemitismus hinwies, erwiderten viele, das sei doch nur ein Wahlslogan.“

„Es liegt was in der Luft“, hieß Anfang der Dreißiger eine politische Revue in Berlin. Julias schier unerschöpfliches Gedächtnis zitiert eine Refrainzeile: „Ich weiß, das ist nicht so, ich weiß, das kommt nicht so, ich weiß, das wird nie sein, aber machen Sie was dagegen, ich bild mir's halt ein.“ In der „Katakombe“ geht alles weiter wie bisher, Julia bringt ihre Vorahnungen im „Walzer 1933“ auf die Bühne. Eine mondäne Walzertänzerin wird zur dämonischen Furie, ihre Handtasche zur Gasmaske.

Herumlungernde Emigrantin

Durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom April 1933 verlieren alle, die als „politisch unzuverlässig“ gelten oder jüdischer Abstammung sind, ihre Arbeit an Schulen und Theatern. Julia muß die Städtische Oper verlassen. Als eines Tages Rudolf Platte in ihre Garderobe stürzt und von zwei SS-Männern berichtet, die sich im Vorraum über die Hitler-Parodie ereifern, wird es für sie, die zudem jüdische Großeltern hat, höchste Zeit.

Gelegenheit zur legalen Ausreise bietet der „Internationale Wettbewerb für künstlerischen Solotanz“ in Warschau. Julia erhält mit einer ihrer „Katakomben“-Parodien den Sonderpreis für den besten Grotesktanz. Nächste Etappen: Wien und Zürich. In Wien ist die frühere Wigmanschülerin Margherita Wallman Ballettmeisterin an der Staatsoper. „Von der erhoffte ich mir eine warme Suppe und vielleicht noch mehr.“ Die im Hotel Imperial residierende Wallman lädt Julia zum Essen ein und zeigt ihr Stefan Zweig, wie er durch die Hotelhalle geht. Das war's. In Zürich gibt sie einen Tanzabend und sieht Freunde, auf die sie gezählt hatte, im Bannkreis des vom Nationalsozialismus faszinierten C. G. Jung.

Irgendwann im Dezember 33 steht Julia Marcus dann am Pariser Gare de l'Est, in der einen Hand ein Köfferchen, in der andern das Paket mit Kostümen. Hans Eisler und Ernst Busch, die sie noch von Arbeiterveranstaltungen kannte, sind nicht aufzufinden, so landet sie mit anderen Emigranten im Hôtel de Seine. Immerhin reicht das Renommée des Warschauer Preises noch für eine Tanzmatinée im ThéÛtre du Vieux Colombier. Aber keine Kritiken, keine Engagements. „Ein Kabarett wie die Berliner Katakombe, wo ich mit meinen Tanzparodien gut hingepaßt hätte, gab's in Paris ja nicht. Also gehörte ich zu den vielen hungernden und herumlungernden Emigranten.“ Ein Engagement in einer Music Hall in Barcelona, gemeinsam mit dem damals noch unbekannten Chansonnier Charles Trenet, bringt Hoffnung, „aber das Publikum bewarf uns mit Apfelsinen, und nach vierzehn Tagen war der Direktor mit den Gagen durchgebrannt.“ Ohne Geld kann Julia kein reguläres Visum mehr bezahlen. Von nun an lebt sie illegal in Paris, kann nicht mehr ins Hotel, übernachtet manchmal auf Parkbänken. Tingeleien, kleine Auftritte bei Wohltätigkeitsabenden und Arbeiterveranstaltungen halten sie knapp über Wasser.

Neuer Hoffnungsschimmer: Eine Bekannte, Catherine Devilliers, exzentrische Russin vom Diaghilew-Ballett, ist ebenfalls in Paris gestrandet. Zusammen mit einer Prinzessin von Rohan betreibt sie einen Salon für „Haute Couture“. Mit ihrer umwerfenden Mischung aus forschem Pragmatismus und fröhlicher Unbekümmertheit wittert Julia ihre Chance: „Ich dachte mir, bei einem Modesalon gibt's bestimmt reiche Damen, die schlank werden wollen. Denen wollte ich dann Gymnastikunterricht ge

ben.“ Die Sache klappt. Eine ihrer Kundinnen, Madame Le Savoureux leitet mit ihrem Mann ein Sanatorium für „leicht Nervenkranke“. Anderthalb Jahre findet Julia Unterschlupf im luxuriösen Sanatorium mit seinem riesigem Park, einer Art Zauberberg vor den Toren von Paris.

Irgendwie landet Julia in der „Bande“ von Jacques Prévert, zu der auch Jean-Louis Barrault und der Dichter Robert Desnos gehören. Treffpunkt ist ein großes Atelier, der „Grenier des Augustins“. Allabendlich findet man sich im Bistro „Cher ami“ in der Rue Jacob ein. Von Barrault erhält Julia den Spitznamen „l'hygièniste“ (die Hygienikerin), da sie als frischluftliebende Schweizerin in seinem stickigen Atelier stets sofort die Fenster aufreißt. „Barrault trug großkarierte Hemden und wickelte um die Taille eine rote Schärpe wie die italienischen Maurer. Er war überzeugt, es sei die einzige Möglichkeit, die Nieren warm zu halten. Überhaupt war er mehr als exzentrisch.“ Rettender Engel des übermütigen Haufens ist Prévert, der in seinen Filmen alle als Statisten unterbringt.

Samstagabends vergnügt sich Julia mit der Prévert-Clique auf dem berüchtigten „Bal nègre“ in der Rue Blomet. „Rumcocktails à la Martinique, die Mitternachtsquadrillen, kreolische Klänge – eine Bombenstimmung. Eines Abends fiel mir ein langer, schlanker Mann aus Martinique auf.“ Der Schöne heißt Daniel Tardy, und von nun an hausen die beiden gemeinsam im Hotel. Obwohl sie mit „nur“ zwei jüdischen Großeltern den gelben Stern nicht tragen muß, wagt Julia bald nicht mehr aufzutreten, zumal ein denunziatorischer Hetzartikel von Louis-Ferdinand Cline sie namentlich erwähnt. Durch die Heirat mit Danny erhält sie die französische Staatsbürgerschaft und ist nun einigermaßen geschützt. In diversen Hotels, wechselnden Stadtteilen und Wohnungen übersteht Julia Tardy-Marcus das Kriegschaos.

Träume vom Ruhm im Rückblick

„Nach dem Krieg war dann der Ausdruckstanz erst mal out, es war halt eine andere Epoche.“ Die Tänzerin muß sich ihren Lebensunterhalt als Sekretärin ertippen. Auf einer Reise in die Schweiz erzählt Julia einem Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung von ihrer Wigman-Ausbildung und vom Ausdruckstanz. „Da lag ich völlig daneben.“ Dann beschreibt sie eine Carmen-Choreographie des jungen Roland Petit. Der Redakteur sagt: „Das chönnet sie uffschriebe, was Sie mir da verzählt hän'.“ So wird Julia Tanzkorrespondentin. Jahrzehntelang berichtet sie für die NZZ, weitere Schweizer und deutsche Blätter, wann immer in Paris „gehüpft“ wird. „Mit dem Schreiben war es wie mit dem Tanzen: Ich hab' mir eingebildet, wenn ich nur am Bleistift rühre, werd' ich gleich weltberühmt.“ Weltberühmt ist sie nicht geworden, aber immerhin eine Institution, mittlerweile schreibt sie im 37. Jahr für Maurice Nadeaus feine Literaturzeitschrift „Quinzaine Littéraire“ (früher „Lettres Nouvelles“). Und sie stiftet gerne und großzügig: zum Beispiel den „Nelly-Sachs-Preis“ für Lyrik- Übersetzungen. „Die Nelly Sachs hat mich unglaublich beeindruckt, sie konnte mit Worten so in den Bann schlagen, wie die Wigman mit dem Tanzen. Um sie herum war eine Stille, ein richtiger Bannkreis.“ Oder sie stiftet zur Erinnerung an eine Tänzerkollegin, die in Auschwitz umgebracht wurde, den „Tatjana-Barbakoff-Preis“ für Nachwuchstänzer. „Das hat was mit Würde zu tun, halt so, als wenn die Barbakoff irgendwo ein verlassenes Grab hätte.“ In ihrem Wohnort Massy errichtete Julia vor kurzem ein Denkmal für den in der Deportation umgekommenen Dichter-Freund Robert Desnos.

Und sie schlägt gern über die Stränge, ohne Rücksicht auf Verluste. So wollte sie kürzlich ein paar Kindern vor der Haustür zeigen, wie man um 1910 Hüpfseil zu springen pflegte. Die Demonstration endete mit einer Muskelzerrung. Besonders gern macht sie sich heute über ihre einstigen Ruhmesträume lustig. Ob Julia ohne Faschismus, Krieg und Flucht doch noch weltberühmt geworden wäre, ist allerdings kein Thema, denn: „Das Hätte liegt im Bette.“

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