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Bühne in reizvoller Hafenlage

Selbstgewählte Isolation südlich von Tel Aviv City: Das Gesher-Theater hat sich nach der verpatzten Perestroika an Moskaus Staatsbühnen in Israel angesiedelt. Dort trifft Gorkis „Nachtasyl“ auf neuen israelischen Hedonismus  ■ Von Jürgen Berger

In ein paar Jahren“, meinte der russische Regisseur Yevgeny Arye, nachdem er Ende der achtziger Jahre mit einer Handvoll Schauspieler Moskau verlassen hatte und via Amerika in Israel gelandet war, „sind wir die beste Bühne des Landes.“ Mit diesen Worten präsentierte er sich einer israelischen Kulturkommission, und irgendwas muß an ihnen dran gewesen sein. Bereits zwei Jahre später wurde die Truppe mit Stoppards „Rosenkranz und Güldenstern“ zum Theaterfestival nach Avignon eingeladen, letztes Jahr eroberte sie Berlin, als sie in „Adam Hundesohn“ den Holocaust als sinnloses Spektakel im Zirkuszelt vorführte.

Fällt heute in Israel der Name „Gesher“, geraten viele ins Schwärmen. Gad Kaynar, Übersetzer, Dramaturg am Nationaltheater „Habima“ und intimer Kenner der Theaterszene, saß damals in der Kommission und erinnert sich, daß man nicht schlecht über das Selbstbewußtsein Aryes gestaunt hatte. Heute spricht er von einer zweiten russischen Theaterrevolution in Israel. Die erste ist eng mit dem berühmten Moskauer „Künstlertheater“ verknüpft; Ensemblemitglieder gingen Anfang der dreißiger Jahre nach Tel Aviv und gründeten das „Habima“, das dann Ende der fünfziger Jahre zum israelischen Nationaltheater erklärt wurde.

Um der zweiten Revolution nachzuspüren, muß man zuerst einmal die Nachmani Street 4 in einem der zur Zeit spannendsten Viertel von Tel Aviv City suchen. Zwei Blocks weiter beginnt der Carmel Market, etwas weiter zur Strandpromenade hin demonstriert Israels Jugend, was Beobachter der Szene als „neuen Hedonismus“ beschreiben. In der Nachmani Street werde ich von Michal Scheflan empfangen, die für die Öffentlichkeitsarbeit von Gesher zuständig ist und deren Büro genau über der kleinen Bühne liegt, von der aus der Gesher-Siegeszug begann. Hier, so erzählt sie, dürfe wegen Baufälligkeit nicht mehr gespielt werden. Dann zeigt sie auf eine Planskizze an der Wand. Es ist der Entwurf eines neuen Theaters, das an gleicher Stelle entstehen soll.

Der Weg in die Gegenwart von Gesher führt zuerst einmal zum Strand und dann immer am Mittelmeer entlang bis nach Jaffa, dem südlichen Zipfel Tel Avivs. Vom Hafen Alt-Jaffas wird behauptet, er sei der älteste der Welt; geht man die Mole entlang, gelangt man irgendwann zur Lagerhalle, die sich die Truppe zum Theater mit 500 Sitzplätzen umgebaut hat. Das war letzten Sommer und dauerte ganze sechs Wochen. Alle, vom Techniker bis zur Schauspielerin, arbeiteten rund um die Uhr. Eine Übergangslösung soll das sein. In Höhe der „Bühnenimmobilie in reizvoller Hafenlage“, direkt an der Mole, ist auch ein kleines Fischrestaurant, in dem ich Yevgeny Arye während einer kurzen Probenpause treffe.

In Moskau, so erzählt er, war er nicht nur Regisseur, sondern unterrichtete auch an der „Akademie der Bühnenkunst“. Gegangen sei er, weil zwar die Perestroika auch im Theater für einen kurzen Aufschwung gesorgt habe, nach kurzer Zeit allerdings kontinuierliche Arbeit schon nicht mehr möglich gewesen sei. Nach einiger Zeit kommt das Gespräch auf die Gesher-Erfolgsstory in Israel, die er folgendermaßen erklärt: „Ich kam mit einer Handvoll talentierter Schauspieler und Techniker hier an und konnte meine Truppe vervollständigen, indem ich aus der großen Zahl von Emigranten, die inzwischen aus der ehemaligen russischen Theaterszene hierher gekommen sind, die besten auswählte. Der wichtigste Grund ist allerdings, daß bei uns, anders als in anderen Theatern, schon seit mehreren Jahren dieselben Leute zusammenarbeiten und nur das machen, was sie tatsächlich interessiert.“

Nach einer halben Stunde schaut er unvermittelt auf die Uhr und muß plötzlich wieder zu seinen Schauspielern. Man ist in den Endproben zu Gorkis „Nachtasyl“; die Premiere soll in ein paar Tagen stattfinden. Man könne das Stück, so meint er gerade noch während seines hastigen Aufbruchs, natürlich als große Tragödie inszenieren, für ihn allerdings seien Gorkis Figuren große Katastrophenschauspieler, bei denen selbst im größten Elend die Lust überwiege, sich gegenseitig etwas vorzuspielen.

Einige Tage später ist Israels Kulturszene an diesem ungewöhnlichen Ort tatsächlich vollzählig zur Premiere versammelt. Nun wird deutlich, warum Gesher sich durchsetzte, obwohl Israel gerade mal so groß ist wie Baden-Württemberg, jeder kennt jeden, und die Pfründe sind noch heißer umkämpft als bei uns. Gesher bietet schlichtweg Theater auf hohem schauspielerischen Niveau. Wenn Yevgeny Arye die Katastrophenspiele im „Nachtasyl“ in melodramatische Höhen treibt, um im rechten Augenblick mit einem gekonnt gesetzten Witz der Rührseligkeit zu entgehen, stimmt jedes Detail. Es geht zwar immer noch um Obdachlose, Gescheiterte, Verbrecher, Schwindsüchtige und Alkoholiker, aus Gorkis Absteige ist allerdings das weite Halbrund eines klassischen Pantheons geworden, in dem die Underdogs wie Heroen des Subproletariats hausen. Wenn die schon etwas verlebte Wirtin hüftschwingend die Treppe herunterkommt, könnte sie in einem anderen Leben Marilyn Monroe gewesen sein, und der mittellose Graf balanciert sein Lorgnon im Auge, als befinde er sich in einem Pariser Salon.

Derart ausgefeiltes Theater gibt es nicht oft in Israel, wo die Bühnen – anders als bei uns – immer noch eine große Bedeutung für das Selbstverständnis des Publikums haben. Die Vorstellungen sind zumeist ausverkauft, die Zahl aktueller Zeitstücke ist wesentlich größer als bei uns, häufig allerdings bleiben inszenatorische Feinheiten auf der Strecke. Das Gesher-Theater stieß also in eine Marktlücke und ist schon seit einiger Zeit alles andere als nur eine Bühne für die inzwischen auf nahezu 500.000 Mitglieder gewachsene Gemeinde russischer Emigranten (rund zehn Prozent der israelischen Bevölkerung).

Jossi Frost, Israels stellvertretender Kulturminister, meint sogar, der israelischen Theaterszene habe nichts Besseres als der Adrenalinstoß „Gesher“ passieren können. Mit ihm treffe ich mich im Café des Nationaltheaters, wo er dann am Tisch sitzt, wie ein hochrangiger deutscher Staatsbeamter nie sitzen würde: entspannt und in Jeans. Ein Problem, so räumt er ein, gebe es tatsächlich. Trotz oder gerade wegen des Erfolges sei das Gesher-Theater eine isolierte Insel im israelischen Kulturbetrieb. „Israel ist für die Künstler vom Gesher-Theater immer noch ein fremdes Land, was unter anderem auch daran liegt, daß meine israelischen Landsleute zwar sehr charmant sein können, allerdings auch nicht ganz unkompliziert sind und ihrerseits dazu neigen, sich abzuschotten. Emigranten müssen also zuerst einmal Barrieren beiseite räumen, und das geht nur, wenn sie Hebräisch beherrschen.“

Dabei ist in Gesherland durchaus ein russisch angerauhtes Hebräisch zu hören – allerdings nur auf der Bühne. Ansonsten scheint die Truppe sich in ihrer selbstgewählten Isolation ganz wohl zu fühlen. Spricht man Yevgeny Arye darauf an, lacht er, und er ist auch etwas stolz darauf, daß sein hebräischer Wortschatz auch nach Jahren gerade mal aus drei Wörtern besteht. Eines davon ist „Gesher“, und das bedeutet ironischerweise „Brücke“.

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