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Viele Köche, wenig Brei

Nie war sie so umstritten wie heute: die UNO, die in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag begeht / Diverse Bücher widmen sich einer Reform der Weltorganisation an Haupt und Gliedern  ■ Von Christian Semler

„Zum Glücke sehn wir nur ein stummes / Portrait des Abts in diesem Saal / denn hätten wir das Original / da hätten wir gewiß was Dummes“. Dieser Spottvers stammt von Voltaire. Gemünzt war er auf Charles Isodore de Saint-Pierre, jenen Abbé, der mit seinem „Traktat vom ewigen Frieden“ dreißig Jahre lang eine ganze Generation von Aufklärern ebenso nervte wie die Kabinette des alten Europa. Saint-Pierres in fünf Fundamentalsätzen komprimierte und vermittels der geometrischen Methode präsentierte Idee, die christlichen Monarchen Europas zum Abschluß einer Friedens-Föderation einzuladen, galt den kritischen Zeitgenossen als Hirngespinst. Offensichtlich, so meinten sie, hatte sich der brave Abbé mit seinem Projekt an die falsche Adresse gewandt. Denn waren es nicht gerade die Fürsten, die sich ihr Recht, nach Gutdünken Kriege zu führen, nie und nimmer würden beschneiden lassen? Krieg und Despotismus gehören zusammen – so lapidar Jean- Jacques Rousseau in seinem „Gutachten über den Plan vom ewigen Frieden“. Eine Stellungnahme, die er allerdings, mehr aus Rücksicht auf seine eigene Sicherheit denn auf die Reputation des mittlerweile verstorbenen Abbé, unveröffentlicht ließ.

Liest man in den zahlreichen Projekten zur Verbesserung der UNO, zu ihrer Reform an Haupt und Gliedern, so scheint es oft, als ob die Gestalt des liebenswürdig-pedantischen Saint-Pierre hinter dem Papierwust auftauche. Mit wie bestechenden, durch den 50. Geburtstag der Weltorganisation noch befeuerten Argumenten wird hier dargelegt, daß es doch im Interesse des begüterten Nordens sei, die UNO zu einem effektiven Instrument der Friedenssicherung, der Entwicklung der Dritten Welt und des globalen Umweltschutzes umzugestalten. Laßt uns, wie der verewigte Abbé, nur das Richtige immerfort wiederholen, so werden sich auch die Ohren der Verstocktesten öffnen. Die Akkumulation weltweiter Katastrophen wird ihnen keine Wahl lassen. Der Phalanx der Wohlmeinenden steht in Politik und Wissenschaft die viel größere Streitmacht der „Realisten“ gegenüber. Nicht daß ihnen die UNO nur „das Ding da“ wäre, wie einst dem General Charles de Gaulle. Sie billigen der Weltorganisation eine nützliche Funktion als Clearingstelle und Forum der Zukurzgekommenen zu, halten aber eine grundlegende Reform nicht nur für undurchführbar, sondern auch für schädlich. Ihrer Meinung nach hat Generalsekretär Ghali den Bogen weit überspannt, übertriebene Hoffnungen geweckt und die Weltorganisation mit einer Weltregierung in nuce verwechselt. Rationalisierung und Effektivierung ja – institutionelle Neuerungen auf keinen Fall.

In seinem Ende 1994 erschienen Werk „Die Reform der UNO“ versteht es der Frankfurter Friedensforscher Ernst-Otto Czempiel, geschickt zwischen den Untiefen von Realismus und Universalismus zu manövrieren. Dieses Kunststück wird allerdings dadurch erleichtert, daß Czempiel den gesamten Komplex der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Aufgabenstellungen ausklammert. Für ihn ist die UNO wesentlich Instrument der Friedenssicherung. Aber auf welche Weise? Czempiel verwirft die Idee eines kollektiven Sicherheitssystems, das ihm zufolge entweder überflüssig oder funktionsunfähig ist. Ihm geht es vor allem um das „Sicherheitsdilemma“, in das jeder Staat gerät, weil er über die realen oder potentiellen militärischen Absichten der Nachbarn keine Gewißheit erlangen kann. Dieses Dilemma, neben den Herrschaftsverhältnissen im Inneren der Staaten die zweite große Kriegsursache, kann durch kooperative Beziehungen, durch gewollte gegenseitige Abhängigkeit zwar nicht abgeschafft, aber gemildert werden. Kooperation spielt sich nicht nur auf dem militärischen Feld ab. Sie ist sogar vorrangig eine Aufgabe der „Gesellschaftswelt“, die deshalb eine stärkere Repräsentanz im UNO- Kosmos finden müsse. Von dieser Prämisse her kommt Czempiel zu dem Schluß, daß es bei der UNO weniger um die Reform der Institutionen gehe, als darum, ihren Charakter als Netzwerk herauszuarbeiten. Er schließt sich eng an die Gedankengänge an, die Butros Ghali in der „Agenda für den Frieden“ entwickelte, und sieht die Hauptaufgabe darin, ein System der Krisenprophylaxe, der Früherkennung, der rechtzeitigen, intervenierenden „Abkühlung“ und der einvernehmlichen Streitbeilegung zu entwickeln. Effektives „Peace-keeping“ setzt voraus, daß die Position des Generalsekretärs (nicht unbedingt durch eine Änderung der Charta) gestärkt, ihm eine für die speziellen Aufgaben der Friedenswahrung ausgebildete Truppe direkt unterstellt wird.

Auf keinen Fall, so Czempiel, könne die UNO staatliche Aufgaben übernehmen oder sogar, wenn auch nur zeitweilig, an die Stelle der aufgelösten Staatsmacht treten, wie in Kambodscha oder Somalia. Indem sich Czempiel hier vor dem „Realismus“ verbeugt, nimmt er nicht hinreichend die Dynamik der Bürgerkriege, die heute weltweit das Gesicht der bewaffneten Auseinandersetzungen bestimmen, zur Kenntnis. Es sind gerade diese Bürger- und Stammeskriege, die die gewaltunterworfenen Gesellschaften in den Mahlstrom staatlicher Anarchie strudeln. Hier unterscheidet sich Czempiel nicht wesentlich von den Friedensforschern, die bedauernd mit den Achseln zucken, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist – desto schlimmer für die Tatsachen.

Czempiels Plädoyer läuft auf die Forderung hinaus, nicht die UNO, sondern die Außenpolitik der Nationen müsse sich reformieren. Detaillierter als bei ihm findet sich in der Ausgabe 3/94 der Zeitschrift Der Überblick, der Quartalschrift der „Arbeitsgemeinschaft kirchlicher Entwicklungsdienst“, eine Diskussion der konkreten UNO-Reformprojekte. Wer eine Anhäufung moralisierender Klagelieder befürchtet hatte, kann aufatmen. Es weht ein scharfer, aber durchwegs analytischer Wind. Die Autoren des Überblick, ehemalige und noch amtierende UNO-Offizielle, Wissenschaftler und NGO-Aktivisten, setzen dort an, wo Czempiel absichtsvoll einen weißen Fleck gelassen hat: am Bereich der Wirtschafts-, Sozial- und Entwicklungspolitik. Erskine Childers, 25 Jahre lang im UNO-Apparat für wirtschaftliche Zusammenarbeit tätig, gibt den Grundton an. Die Gründergeneration hatte der UNO ein ausdrückliches Mandat für die wirtschaftliche Entwicklung zuerkannt, aber in den Jahrzehnten nach 1945 verselbständigten sich die „Bretton/Wood“-Organisationen, d. h. die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (und später die Gatt) und wurden zu Instrumenten in der Hand des industrialisierten, kapitalistischen Nordens. Die Wirtschaftsorganisationen der UNO hingegen, wie der Wirtschafts- und Sozialrat Ecosoc oder die Entwicklungsagentur UNDP fristeten stets ein fragmentiertes, einfluß- und kapitalarmes Dasein.

Heute, so Childers, haben Weltbank und IWF längst aufgehört, unparteiische, global wirkende Finanzinstitutionen zu sein. Die „Strukturanpassungen“, die sie den Entwicklungsländern diktieren, stürzen die Entwicklungspolitik in einen krassen Widerspruch: auf der einen Seite erhalten diese Länder über die UNO und noch mehr auf bilateralem Weg bedeutende Mittel für das Bildungs- und Gesundheitswesen. Andererseits fordert nach Childers der IWF die „Nehmer“länder auf, die Ausgaben für ebendiese Institutionen um bis zu 35 Prozent zu senken.

Childers und seine Freunde ziehen die Gründung einer neuen UNO-Bank in Betracht. Institutionell fordern sie, einen stellvertretenden Generalsekretär für Entwicklungsfragen zu wählen, die Ecosoc wiederzubeleben, aus ihren Reihen einen UNO-Sicherheitsrat für wirtschaftliche Entwicklung zu benennen, die zersplitterten Fonds einer einheitlichen Administration zu unterstellen und regionale UNO-Büros zu errichten, so daß die Organisation in jedem Entwicklungsland nur mit einer Stimme spricht. Bislang ist dieses Paket nicht nur an den Industriestaaten, sondern auch an den Eifersüchteleien vieler Dritte- Welt-Länder gescheitert, aber der (zum Beispiel in Form der Migration) sich verstärkende Druck des Südens auf den Norden läßt die Forderungen auch nicht als gänzlich chancenlos erscheinen.

Und das Lieblingsthema in unseren Breitengraden, die Reform des Sicherheitsrates? Mit Recht kritisiert Werner Ruf in seiner Schrift „Die neue Welt-UN-Ordnung“ den „illusionär-romantischen Blick“ auf eine Institution, die ein allgemeines Interventionsrecht und universelle, völkerrechtssetzende Kompetenz für sich beansprucht, de facto aber lediglich die Interessen der führenden Industriemächte durchsetzt und die eigentliche Aufgabe, die Bekämpfung der Ursachen für Elend und Krieg, hintertreibt. Seine Vorschläge zur Remedur allerdings, vor allem die Idee der Gewaltenteilung zwischen Sicherheitsrat, Generalversammlung und Internationalem Gerichtshof sind nicht nur gänzlich utopisch, sondern umgehen auch das eigentliche Problem: den Widerspruch zwischen dem Erfordernis der Effektivität (die eine starke Stellung der führenden Industriemächte voraussetzt) und der Notwendigkeit, den Ländern der Dritten Welt endlich zu einer angemessenen Repräsentanz zu verhelfen. Zwischen ständigen, halbständigen, rotierenden und nichtständigen Mitgliedschaften bewegt sich die Kombinatorik der immerhin über 100 offiziellen Vorschläge zur Reform. Die Idee, Deutschland zu einem ständigen Sitz zu verhelfen, findet sich in dieser Diskussion, dem Herrn Außenminister sei's hinterbracht, allerdings am Ende der Prioritätenliste.

E.-O. Czempiel, „Die Reform der UNO, Möglichkeiten und Mißverständnisse“. Beck, München 1994, 200 S., 19,80 DM

„Der Überblick“, Zeitschrift für ökumenische Begegnung und internationale Zusammenarbeit, Heft 3/1994, 148 S., 7 DM

Werner Ruf, „Die neue Welt-UN- Ordnung, Vom Umgang des Sicherheitsrats mit der Souveränität der ,Dritten Welt‘. Münster 1994, „agenda“, 139 S., 19.80 DM

Werner Bahner, „Der Friedensgedanke in der französischen Aufklärung“, in: „Grundpositionen der französischen Aufklärung“ Berlin 1955, vergriffen

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