■ Boris Jelzins Rede und der Westen: Karten auf den Tisch!
Boris Nikolaijewitsch, was wollten Sie uns denn nun sagen? Mit Spannung wartete der Westen auf Ihre Regierungserklärung, viel angespannter als Ihr Wahlvolk, dessen Gunst Sie ohnehin verspielt haben. Und was wurde geboten? Ein bißchen Theatralik, die den Opfern in Tschetschenien das Leid mindern sollte. Im Angesicht von zigtausend Toten war das für unser Empfinden sehr kaltherzig. Wir ein wenig Naiven, für die Rußland und Seele immer noch Synonyma sind. Sie vermittelten den Anschein, als seien es nicht Ihr Staat und seine Amtsträger – mit denen Sie ja ziemlich scharf ins Gericht gingen –, die im Kaukasus täglich Schmerz säen. Diese Übung in Unaufrichtigkeit läßt uns fragen: Wütet im Kaukasus eine Naturkatastrophe? Sie sollten wissen, für uns sind Sie eigentlich die erste Quelle, Ihr gutes Verhältnis zum Bundeskanzler macht Sie hier zum glaubwürdigsten Vertreter Ihres Landes. Wir brauchen die Wahrheit, keine wohltemperierten Variationen auf die bekannte Melodie russischer Macht: wohlfeile Uminterpretationen je nach Publikum. Korrigieren Sie uns, sollte der Eindruck falsch sein!
Handelt es sich nun um eine Naturkatastrophe? Wenn ja, verstehen wir nicht, warum die humanitären Hilfsangebote so viele Hindernisse überwinden müssen? Berge wachsen, wo sich eine Ebene ausbreitete? Parlamentarier der Europäischen Union werden nicht ins Land gelassen, als seien sie Agenten mit immunitärem Schutz. Dergleichen ist aus unserer Sicht doch gar nicht nötig. Wer will eigentlich in die Europäische Union? Darf man sich in Rußland seinen zukünftigen Mitbewohner vorher nicht anschauen und ihn mit dem Domostroj – den Hausregeln – vertraut machen?
Sie können im Westen auf Verständnis bauen, wenn Sie zeitweilig Außenpolitik an den Erfordernissen des Inneren ausrichten. Das läuft hier manchmal auch so. Im vorliegenden Fall kreieren Sie die Prämissen indes selbst – gegen den Willen der Mehrheit des Volkes. In unseren Augen ist das unlauter und daher erwarten wir Tacheles – frei von dieser ganzen schwulstigen nationalistischen Brühe. Sie wissen es schließlich selbst, die Russen wollen endlich mal gut und in Ruhe leben, alles andere ist zweitrangig. Nachdem Sie dafür die Fundamente gelegt hatten, drohen Sie sie eigenhändig wieder einzureißen. Wir hatten allerdings befürchtet, Ihre Rede würde sich noch schroffer gen Westen wenden. Dagegen übte sie sich in Mäßigung, schlug keine harten Saiten an. Darf man das als Einsicht werten, daß es sich nicht lohne, im Sonderinteresse Ihrer einfältigen Entourage wieder Mauern zu errichten? „Wer zu spät kommt, den straft das Leben“, hatte Ihr Vorgänger gewarnt und verschwand dann selbst in der Versenkung. Allein, in Ihrem Fall zögen Sie ganz Rußland mit hinab ... Also Karten auf den Tisch. Klaus-Helge Donath
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