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Zaunkönige im Abseits

■ Wer sich das Wohnen in der Stadt nicht leisten kann, wird an den Stadtrand abgeschoben. Zum Beispiel nach Neu-Allermöhe Von Lisa Schönemann

„Neu-Aller-möhe?“ Der Busfahrer deutet mit der linken Hand auf eine Ansammlung roter Backsteinbauten, die sich bis zum Horizont erstreckt. Hamburgs jüngste Trabantenstadt, die wegen einer Häufung von Leukämie-Erkrankungen bei Kindern in die Schlagzeilen geraten ist, liegt südlich von Bergedorf am Elbdeich. Vom mehrgeschossigen Sozialbau oder Miniatur-Reihenhaus bis zum feinsten Grasdach-Ökohaus ist alles vertreten, was sich um eine Spielstraße herumgruppieren läßt. Wasserläufe und Brücken zwischen den Wohnblocks komplettieren die Idylle. „Jeder Zweite hat hier einen Hund“, strahlt Julia, die mit dem Bus unterwegs nach Hause ist. Das stimmt zum Glück nicht ganz – und doch zerren nachmittags außer der dreizehnjährigen Schülerin noch unzählige andere Mieter ein vierbeiniges Statussymbol hinter sich her. Ein Hund bedeutet: Wir wohnen jetzt im Grünen.

Rund zehntausend Menschen – meist junge Familien – leben in den rund 3700 Wohnungen in den Vier-und Marschlanden. Außer Julia gefällt es auch ihren gleichaltrigen Freundinnen Linda und Marion in Neu-Allermöhe. Das liege am Abenteuerspielplatz, dem Bade–teich und den vielen Kindern, erzählen die Mädchen. Ihre Eltern haben am Rande des Quartiers gebaut. Die Grundschule, der Kindergarten und das Spielehaus sind längst zu eng geworden. Eine Ausweichmöglichkeit gibt es nicht. Die Gesamtschule ist noch im Bau. Wenn der HVV-Bus mit der Nummer 234 die Schüler morgens in andere Vororte zum Unterricht bringt, „hält er wegen Überfüllung oft an vielen Haltestellen nicht mehr an“, klagt ein achtjähriger Junge. Heute hat er einen Stehplatz ergattert, versucht, sich zwischen den größeren Schülern unsichtbar zu machen. „Marc, bist du noch da?“ ruft er verzweifelt. Nein, der Freund ist verschwunden.

Sandra Dittmer und ihre Familie kamen vor drei Jahren per Dringlichkeitsschein nach Neu-Allermöhe. Obwohl die Wohnungen hier etwas kleiner sind als beispielsweise in Steilshoop, ist die Mutter zweier Kinder froh über die „einigermaßen bezahlbare“ Miete. Sandra Dittmer hat die Nachricht über die leukämiekranken Kinder, von denen vier aus Neu-Allermöhe kommen, im Radio gehört: „Mein erster Gedanke war: Sofort weg von hier.“ Aber wohin? Einen neuen Wohnungsberechtigungsschein zu bekommen sei ausgeschlossen. „Ich kann nachts nicht schlafen.“ Jetzt hofft sie, über Nachbar-schaftskontakte an die betroffenen Familien heranzukommen. „Vielleicht haben die Kinder auch woanders gelebt, und der Blutkrebs geht nicht ausschließlich auf ihre Zeit in Allermöhe zurück.“ Ihrer Meinung nach hätten die Behörden diese Details längst erschöpfend untersuchen müssen. Solange die Hintergründe unklar sind, will Sandra Dittmer ihre Kinder „auf jeden Fall regelmäßig untersuchen lassen“. Selbst auf die Gefahr hin, ausgelacht zu werden von denen, die „total gleichgültig sind“.

Zwei Reihenhausschneisen weiter wohnen ein Mechaniker und seine Frau mit ihren beiden Söhnen. Auch ihre (Sozial-)Miete liegt inzwischen bei zehn Mark pro Quadratmeter. „Hier wohnen Arme und Reiche zusammen. Das funktioniert an und für sich ganz gut“, sagt der Mann vorsichtig. Beide schätzen die Situation so ein, daß kaum eine Familie wegen der Bedrohung durch den Atommeiler Krümmel und die Norddeutsche Affinerie den Ortsteil verlassen wird. Und: Der einzelne könne halt nicht mehr tun, als seine Kinder zum Bluttest zu schicken. „Kinder zu haben bedeutet doch in gewisser Weise immer, Angst zu haben“, fügt er mit einem wütenden Fingerzeig auf die wenig beachteten Tempo-30-Schilder hinzu.

Allermöhe ist das größte Wohnungsbaugebiet, das in den letzten Jahren in Hamburg fertiggestellt wurde. Der Trend, auf der grünen Wiese zu klotzen statt Baulücken zu schließen, hält an. In Neugraben-Fischbek sollen 1997 rund 3000 Wohneinheiten schlüsselfertig übergeben werden. Im selben Jahr werden nach Auskunft der Stadtentwicklungsbehörde 1400 Wohnungen auf der ehemaligen Trabrennbahn in Farmsen bezugsfertig. In Schnelsen-Burgwedel entstehen 1700 neue Quartiere. Zudem arbeiten die Bagger bereits an einem gigantischen Projekt: Allermöhe II mit 5800 neuen Wohnungen. Auf der einen Seite suchen Zehntausende ein adäquates Dach über dem Kopf, weil sie die steigenden Mieten in ihren angestammten Stadtvierteln nicht mehr bezahlen können. Die Neubauten – insbesondere die Sozialwohnungen – werden dringend benötigt. Nur die Hälfte aller Dringlichkeitsscheinbesitzer konnte in den letzten Jahren mit Wohnraum versorgt werden. Die GAL fordert daher den Bau von jährlich mindestens 5000 Sozialwohnungen und eine Verdichtung der innerstädtischen Bebauung. Der Senat will mit der Hälfte auskommen. Jedenfalls wird eine steigende Anzahl von Menschen ohne Rücksicht auf die dort herrschenden Schadstoffbelastungen im Boden und in der Luft bis an die Stadtgrenze zurückgedrängt werden. Zaungäste, die dem urbanen Leben in der Stadt aus der Ferne zuschauen, ohne selbst über Eintrittskarten zu verfügen, auf denen „Arbeit“ oder „Ausbildung“ steht. Wer kein Faible für schöne Landschaften hat, sitzt da draußen auf verlorenem Posten.

„Du holst ja doch nichts 'raus“, orakelt die Bedienung vom Allermöher Imbiß, als ein Jugendlicher im schwarzen Kapuzen-Sweatshirt zum x-ten Mal bei ihr Geld wechselt, bevor er zu seinem Barhocker vor dem Spielautomaten zurücckehrt. Betont lässig setzt er die blinkende Maschine in Gang und knurrt mit finsterer Miene: „Gestern hatt' ich was.“ Wieviel er gewonnen hat, verschweigt er. Der Schnellimbiß liegt quasi im Herzen des niederländisch anmutenden Wohngebiets, im „Grachtenhaus“, wie sich das wenig einladende Mini-Einkaufszentrum nennt, das tatsächlich von Wasser umgeben ist. Es beherbergt nicht viel mehr als einen türkischen Gemüsehändler und je eine Filiale von Aldi und Schlecker.

„Milch-Saft-Klopapier-Toastbrot“, steht auf einem vom Nieselregen durchweichten Einkaufszettel, der im Eingang liegengeblieben ist. Ganze Familien decken sich außerdem mit Rotkohl im Glas ein. Nein, vom Krebsrisiko spricht in der Schlange vor der Kasse niemand. „Man hofft immer, daß es einen selbst nicht trifft“, mehr läßt sich eine Kundin nicht entlocken.

„Wenn man allein ist, ist das Leben überall traurig“, resümiert eine Rentnerin, die sich im Imbiß hinter einem Glas Bier niedergelassen hat. Der Typ am anderen Ende des Tresens pflichtet ihr bei, auch die Frau im Kittel, die jetzt an der Friteuse hantiert, nickt zustimmend. Die Alte verstummt wieder. Im Hintergrund flucht der Spieler und vergräbt die Hände in den leeren Hosentaschen. Obwohl sich die Planer beim Bau und der sozial gemischten Belegung von Neu-Allermöhe regelrecht angestrengt haben, ist die Anonymität in der Großsiedlung nicht geringer als in anderen Mietskasernen. Es gibt kein Café, weder Kneipen noch ein Kino. Den Jugendlichen bleibt nur die handgemachte Randale. „Durchgrüntes Wohnumfeld“, „Ziegelbauweise“ oder auch „Wasserläufe“ heißen die Zauberworte, mit denen die Baubehörde ihre Broschüre über Neu-Allermöhe schmückt. Doch nach etwa zwanzig Minuten wird man der Backsteinfassaden mit den blauen Fensterrahmen und Türen überdrüssig. Daran können auch die winzigen Gärten nichts ändern, die mit Sandkisten, Kanus und überdimensionalen Gartenmöbeln zugestellt sind. Werden Zaungäste allein dadurch zu Königen, daß ihre Straßen allesamt nach antifaschistischen Widerstandskämpferinnen, Dichterinnen und Bergedorfer Hebammen benannt wurden?

„Architektonisch mag das hier ein Vorzeigestadtteil sein, aber intern ist die Hölle los.“ Die Leiterin des Allermöher Spielehauses, Angelika Melau, rückt gleich mit der Sprache heraus. Die Schlechterverdienenden hätten auch vor der alarmierenden Nachricht über die erhöhte Leukämie-Rate schon genug Probleme gehabt. Viele sind aus anderen Großsiedlungen wie Mümmelmannsberg nach Allermöhe gezogen, bekamen wegen der Geburt eines Kindes eine andere Wohnung zugewiesen. Dann verloren zahlreiche Männer ihre Arbeit, die neuen Möbel konnten nicht mehr abbezahlt werden. Eine Scheidung folgte der nächsten. Den Polen in der Siedlung falle nun „die Rolle der Buhmänner“ zu.

Obwohl eine ganze Schulklasse bei der Beerdigung eines leukämiekranken Mitschülers geweint hat, kann von Panik nach Einschätzung der Erzieherin so wenig die Rede sein wie von einer „plötzlich verlassenen Geisterstadt“. Wenn in wenigen Wochen die Gleichgültigkeit den Alltag zurückerobert hat, wird nur eine unterschwellige, diffuse Angst zurückbleiben. „Der Osten Hamburgs ist nun mal dreckig“, unterstreicht Angelika Melau. Mieter und Häuslebauer, die in Allermöhe einen Neuanfang wagen oder einfach nur wohnen wollten, haben das wohl nicht geahnt.

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