: Litauens Präsident in Israel
■ Schwieriger Staatsbesuch angesichts des problematischen Verhältnisses der Litauer zu ihrer Vergangenheit
Warschau/Vilnius (taz) – Jede Geste und jedes Wort wird Algirdas Brazauskas bei seiner Visite in Israel abwägen müssen, die gestern begann. Zum ersten Mal besucht ein litauischer Präsident Israel, und das in einer Atmosphäre, in der allzuleicht ein Anlaß für einen diplomatischen Skandal geschaffen werden kann. Glaubt man der Presse, wäre es zu der Reise beinahe gar nicht gekommen. Grund dafür: das nach wie vor ungeklärte und äußerst problematische Verhältnis der Litauer zu ihrer Vergangenheit, insbesondere zur litauischen Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust an den litauischen Juden.
Als deutsche Truppen 1941 die Sowjetunion überfielen und dabei auch Litauen besetzten, wurden sie von vielen Litauern freudig als Befreier von der sowjetischen Besatzung begrüßt, die bereits ein Jahr gedauert hatte und während der viele litauische Patrioten als Nationalisten deportiert oder umgebracht worden waren. Die Litauer empfingen die Deutschen in der Hoffnung, diese würden den litauischen Staat wiedererrichten. Obwohl die neuen Besatzer dazu keineswegs bereit waren, gelang es dem deutschen SD, mehrere tausend Freiwillige als Polizisten und Erschießungskommandos zu werben. Diese „Schützenverbände“ beteiligten sich dann auch an der Erschießung der litauischen Juden. Diese Tatsache wird inzwischen in Litauen kaum mehr geleugnet. Die litauische Beteiligung am Holocaust rechnen aber besonders nationale Historiker gerne auf – mit dem „Genozid an den Litauern“, der mit jüdischer Beteiligung stattgefunden habe. Darunter ist die Deportation und Hinrichtung polnischer Patrioten unter der sowjetischen Besatzung zu verstehen und die Tatsache, daß viele höhere NKWD- und KGB-Posten in der Nachkriegszeit von Litauern und Russen jüdischer Abstammung besetzt waren. In Vilnius entstand inzwischen im Gebäude des früheren KGB-Hauptquartiers ein „Genozid-Zentrum“, das sich allerdings gerade nicht mit dem Genozid an den litauischen Juden, sondern dem „Völkermord an den Litauern“ danach beschäftigt.
Die nach der Unabhängigkeit und der Aufhebung der Zensur kaum aufgearbeitete Vergangenheit holt das Land immer wieder ein. Litauische Partisanen, die nach dem Rückzug der Wehrmacht gegen die Sowjetisierung ihres Landes kämpften, wurden von stalinistischen Schnellgerichten zum Tode, zur Deportation oder zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Nach 1990 begann ihre Rehabilitierung. Doch bald stellte sich heraus, daß einige Dutzend Rehabilitierter nicht nur Opfer Stalins, sondern auch selbst Mittäter beim Massenmord an den Juden gewesen waren. Proteste des Jüdischen Weltkongresses und israelischer Politiker waren die Folge. Mehrfach nahmen litauische Politiker Litauer im Ausland in Schutz, die in Großbritannien und den USA der Teilnahme an Erschießungen zwischen 1941 und 1944 beschuldigt wurden. Zuletzt entdeckten die US-Behörden, daß der 87jährige Aleksandras Lileikis die US-Staatsbürgerschaft unter Verheimlichung seiner Kriegsvergangenheit erhalten hatte – er soll die Verantwortung für die Auslieferung von 55.000 litauischen Juden an die Gestapo und die Deportation zahlreicher weiterer Juden in Vernichtungslager tragen. Die Staatsanwälte in Litauen reagierten auf ein US-Rechtshilfeersuchen erst, nachdem Präsident Brazauskas Druck auf die Justizbehörden ausgeübt hatte.
Brazauskas kann sich zugute halten, daß er die Zusammenarbeit mit israelischen Experten im Gegensatz zu seinem Vorgänger Vytautas Landsbergis unterstützt. Während damals die Rehabilitierungsakten für geheim erklärt worden waren, öffnen sie die Behörden nun einer israelischen Expertengruppe. Tatsächlich sind von insgesamt dreißig- bis fünfzigtausend Rehabilitierungsverfahren nur 58 strittig. Doch besonders für Litauens Rechte bedeutet Brazauskas Nachgeben eine nationale Schmach. Als das Parlament Mitte Februar eine Resolution gegen Rassismus, Antisemitismus und Xenophobie beriet, brach eine Grundsatzdebatte aus. Die rechtsgerichtete Vizevorsitzende des Justizausschusses, Zita Slicite, forderte, Brazauskas solle von Israel die Auslieferung jener Juden fordern, die sich am „Genozid des litauischen Volkes“ schuldig gemacht hätten“. Klaus Bachmann
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