Berliner Tagebuch: Zu müde für die Tat
■ Berlin vor der Befreiung: 8. März 1945
Foto: J. Chaldej/Voller Ernst
Was nützt es, wenn sie Köln erobern, vor Bonn stehen und durch einen Husarenstreich den Rhein überschreiten!
Irgendwie kommt alles zu spät. Die Rheinüberquerung, das Rüsten an der Oder, die täglichen Bombenangriffe und die steigende Unruhe der Nazi- Bonzen. Wenn wir es wirklich geschafft haben, werden wir alle zu müde sein.
Zu müde für die Tat, zu müde für den Aufbau, zu müde für das einzige, das wahr ist: die Darbietung von Gold, Weihrauch und Myrrhen.
Heute war Karli Gennert bei mir. Der Sohn meiner Schulfreundin Freda. Das Menschenwürfelspiel Adolf Hitlers hat ihn nach Pommern verschlagen. Von dort kam er zu uns. Auf einen kurzfristigen Hitlerjungen- Urlaub.
„Mein Vater sitzt“, sagt er. „Seit Weihnachten schon. Unschuldig im Gestapo-Gefängnis in der Lehrter Straße. Nur weil er Goerdeler kennt und mein kleiner Bruder Goerdelers Patenkind ist. Sie heizen nicht in der Lehrter Straße. Er erfriert ganz einfach, mein Vater.“
Wie ein gramvoller Greis sieht uns der Junge an. „Das darf doch nicht sein. Wo er doch unschuldig ist!“
Viele sind unschuldig. Viele erfrieren, verbrennen, werden gefoltert und sterben. O Gold! O Weihrauch! O Myrrhen! Ruth Andreas-Friedrich
Aus: „Der Schattenmann“ und „Schauplatz Berlin“, beides Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a. M. 1984, Tagebuchaufzeichnungen von 1938 bis 1945 und 1945 bis 1948.
Die Journalistin Ruth Andreas- Friedrich (1901 bis 1977) war Mitglied einer Berliner Widerstandsgruppe, die untergetauchte Juden versteckte.
Recherche: Jürgen Karwelat
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