Schwäbischer Alb: Immer Schlachteplatte
■ Ernst Jünger – Spurensuche in Wilflingen und Heidelberg
Kurze Rast oben bei Billafingen. Noch einmal Ernst Jüngers Tagebuch aus den Jahren 1939/40 in die Hand genommen. Zur Einstimmung die Stelle vom „Erpel mit der Locke im Bürzel gelesen, die ihm etwas vom verwegenen Burschen gibt“. Dann runter nach Wilflingen, wo gleich rechts der Gasthof zum „Löwen“ auftaucht. Hier bedient der Wirt. Auf die Frage, ob er sich nicht mit an den Tisch setzen und ein wenig über Ernst Jünger reden wolle, der 100 Meter weiter wohnt, fragt Anton Reck mißtrauisch, ob ich auch so ein linker Journalist sei und das ganze Dorf, also alle 360 Wilflinger, in den Dreck ziehen wolle?
Zur Beruhigung ziehe ich einen FAZ-Zeitungsausschnitt aus der Tasche und lese vor: „Auch in Wilflingen schäumt die Oberfläche. (...) Ernst Jünger erwartet an diesem Morgen Helmut Kohl und François Mitterrand. (...) Die Zeit trat über die Ufer in Wilflingen, und man wunderte sich sehr.“ Auch Anton Reck kann sich der Wirkung solcher Sätze nicht entziehen und erinnert sich, wie er, der Dirigent der Blechbläser, am Rande des Sportplatzes stand. „Da landete der Hubschrauber, dann kamen Kohl und Mitterrand heraus, und es ging im Gleichschritt zum Hause Jünger.“
Auf meinem ersten Gang zu Jüngers Wohnhaus, der Oberförsterei gegenüber dem Stauffenbergschen Schlößchen mit seinen putzig weiß-blauen Fensterläden, ist die Straße ausgestorben. Langsam wird es dunkel, im ersten Obergeschoß sitzt der Hundertjährige wahrscheinlich über einen Käfer gebeugt, lediglich zwei Zimmer sind beleuchtet – im Hause Jünger geht man auch stromtechnisch sparsam mit den Ressourcen um. Zu teuer dürfte es also nicht werden, wenn am 28. März Punkt 0.00 Uhr Ortszeit geschieht, was Wilfried Steuer, Vorstandsvorsitzender der Energieversorgung Schwaben, beschlossen hat. „An Ihrem 100. Geburtstag wird ein Trupp von der Energieversorgung Schwaben kommen und in Ihrem Haus den Zähler abmontieren. Dann leben Sie stromkostenfrei.“
Auch er ein schwäbischer Truppführer, in seinem früheren Leben Landrat im Landkreis. Seinen Entschluß teilte er Jünger im Gasthaus zum „Löwen“ mit, in dem ich abends wieder mit Anton Reck zusammensitze. Ja, sagt der, Ernst Jünger komme hin und wieder zum Essen und bestelle dann immer Schlachteplatte. Später, im matten Licht der schwäbischen Nachttischlampe, Jüngers „Afrikanische Spiele“ ausgepackt. Ein Buch, bei dem man sich ertappt, weiterlesen zu wollen. Jünger hat seinen herablassenden Ton noch nicht in Sphären einer enervierenden Sterilität kultiviert wie fünf Jahre später in den „Marmorklippen“. Hier oben in der schwäbischen Einöde beginne ich zu ahnen, welche Faszination Jünger auf gelangweilte Intellektuelle, Intendanten und Kettenraucher ausübt: nicht mehr Leidhammel der Nation sein, lieber als graumelierter Pfadfinder Aufbruchphantasien ausleben; es sich von einem Buch besorgen lassen, vom anarchischen Leben träumen und nebenbei Krankenkassenbeiträge zahlen.
Kurz vor dem Einschlafen noch einmal „Gestaltwandel“ hervorgeholt. Zum fünftenmal gelesen und zum fünftenmal verstanden, daß es nichts zu verstehen gibt. Jünger fabuliert, wie schon 1932 im „Arbeiter“, als er sich eine titanische Gestalt zusammenreimte, die über Maschinen gebietet wie der preußische Junker über seine Ländereien. „Man wird in gesteigertem Maße die Rolle wiederentdecken, die der Allgemeinen Wehrpflicht in bezug auf die Erziehung, Durchdringung und einheitliche Zucht, kurzum auf die rassenmäßige Ausprägung der Bevölkerung zugewiesen war“, hat er da geschrieben und wollte sich bei den Nazis andienen. Die allerdings akzeptierten ihn nicht als geistigen Führer, so daß er sich 1963 in einem Vorwort zu einer Neuausgabe des „Arbeiter“ beklagt, Hitler & Co. seien seinen dortigen Entwürfen nicht gefolgt.
Man schläft unruhig nach solcher Lektüre. Am nächsten Morgen geht es von Wilflingen nach Heidelberg, wo Jünger das Licht der Welt erblickte. Stadt und Universität ehren ihn mit einem Festakt, die Sache hat allerdings mehrere Haken: Zum einen war von vorneherein fraglich, ob Jünger überhaupt erscheinen würde, zum anderen gibt es keinen Grund, aus Jünger einen „Sohn der Stadt“ zu machen. Schon wenige Monate nach der Geburt des Filius zog die Familie nach Hannover, hier studiert hat er nie.
Jünger interessiert sich nicht für Heidelberg, und Heidelberg müßte sich nicht für ihn interessieren, wäre da nicht Helmuth Kiesel. Er ist Professor am Germanistischen Seminar und Hauptdarsteller einer Posse, in der Heidelbergs Literat und Stadtführer, Michael Buselmeier, eher eine Nebenrolle spielt. Der will herausgefunden haben, Jünger sei zwischen 1914 und 1918 doch noch einmal in Heidelberg gewesen, und zwar, als der Pour le Mérite-Aktivist in einem Offizierslazarett oberhalb des Heidelberger Schlosses für neue Fronteinsätze zusammengeflickt wurde.
Ich rufe Buselmeier an, der darauf besteht, in Tradition der Anarchisten zu stehen. Das verbinde ihn mit Jünger, der bekanntlich auch Anarchist sei. Es stellt sich heraus, daß Buselmeier schon häufiger nach Wilflingen geschrieben hat – einmal, als eine Behauptung des Germanistik- Professors ihn nicht ruhen ließ: Kiesel verbreitet, Heidelbergs Schlangenpfad, der vom Neckar hoch zum Philosophenweg führt (dort wandelten alle deutschen Geistesgrößen von Goethe bis Hölderlin), habe Jünger zu seiner Schlangenmetaphorik in den „Marmorklippen“ inspiriert. Buselmeier wollte es genau wissen, Jüngers postalischer Return: Noch nie von einem Schlangenpfad in Heidelberg gehört.
Nach Wilflinger Alb-Traum und Heidelberger Nebel fahre ich im Intercity nach Göttingen zu Heinz Ludwig Arnold (siehe Interview) und packe die „Magie der Heiterkeit“ aus, Klett-Cottas Geburtstagsgeschenk an Jünger. Lese heiter in Botho Strauß' Beitrag, Jünger sei „nach dem Krieg der Vergegenwärtiger, der Gegenwartsautor schlechthin gewesen“. Was Strauß wohl meinen könnte. „Eine gefährliche Begegnung“ etwa, den völlig mißglückten Kriminalroman aus dem Jahre 1984, mit dem Jünger sich in ein Paris des letzten Jahrhunderts träumte. Wie dem auch sei, ich drücke meine Nase an der Zugscheibe platt und mache mir Gedanken über eine dpa-Meldung. Der Vorstand der Energieversorgung Schwaben, heißt es da, weigere sich, Jüngers Stromkosten zu erlassen. Muß Wilfried Steuer jetzt tatsächlich in die eigene Tasche greifen? Oder wird Botho Strauß am Ende einen Jünger-Hilfsfonds gründen? Jürgen Berger
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