Die Bäume werden verheizt

In Georgien kennen die Menschen inzwischen Kälte und Mangel / Der Strom ist rationiert / Das Land lebt wider seine Natur  ■ Aus Tbilissi Klaus-Helge Donath

Die Zeit des weißen Flieders ist fast schon vorüber. Frühling hat in Tbilissi längst Einzug gehalten. Das Gelb der Dotterblumen sprießt auf den seit langem ungepflegten Rasenflächen. Ein alter Mann pflückt sie, sichtlich angestrengt, und steckt sie in eine dreckige Plastiktüte. Wofür, sagt er nicht. Verlaß ist auf den Frühling noch nicht, immer wieder täuscht er durch Kälteeinbrüche und unbarmherzigen Wind. Georgien galt einst als Sonnenflecken der Sowjetunion. Kälte und Mangel? Damals hätten die Georgier gelacht. Dergleichen kannten nur die Russen.

Mit der Unabhängigkeit vergeudeten die politischen Kräfte der Kaukasusrepublik die Energien in nationalen und kriminellen Zwistigkeiten. Und der große Bruder jenseits des Bergmassivs setzte alles dran, um dem stolzen Volk das Selbständigsein zu verleiden. Wenn wenigstens die Sonne es mit ihnen gut meinte, sie hätten ein Problem weniger. Den ganzen Winter über wurde nicht geheizt. Es fehlt an Brennmaterial. Schulunterricht fiel aus, seit beinah fünf Jahren sind die Kinder sich selbst überlassen.

Die Straße des 9. April führt den Hang hinauf in die Berge. Sie zweigt vom Platz der Freiheit ab, wo am 9. April 1989 in einer letzten Anstrengung sowjetische Einheiten mit Gas und Spatenblatt dem Selbstbehauptungswillen der Georgier zu Leibe rückten. Die Fassaden im Altstadtviertel rotten vor sich hin. Ein Straßenhändler löst mit seinem Sohn Rechenaufgaben auf der winzigen Verkaufsfläche, auf der ein karges Angebot aus Zigaretten, Kaugummis und Schokoladenriegeln ausliegt. Hundert-, wenn nicht tausendfach findet man das gleiche Sortiment in Tbilissi. Die Stadt, die einmal überquoll an orientalischer Buntheit und südlichen Köstlichkeiten, ist matt geworden.

Und dennoch scheint Normalität das Leben zu regieren. Zumindest auf den ersten Blick. Über Tbilissis Lebensader, den Rustaweli-Boulevard, schieben sich tagsüber die gleichen Menschenmassen, der lärmende Straßenverkehr reißt nicht ab, obwohl das Benzin knapp und damit teuer geworden ist. „Aus Rußland kommt nichts mehr. Alle Straßen sind zu. Benzin liefert uns Aserbaidschan“, erzählt Dschota, während er Millionen Koupons der pastellfarbenen heimischen Übergangswährung stapelt. Er betreibt eine Wechselstube, wo früher einmal Redaktionsräume einer Zeitung gelegen waren. Für einen russischen Rubel erhält man 290 „Georgier“, für einen US-Dollar anderthalb Millionen. Der Rubel ist dagegen eine stabile und die eigentliche Landeswährung. Die Händler und Händlerinnen in der riesigen Markthalle der Hauptstadt nennen erst mal alle Preise in der Nachbarwährung.

Geschäfte haben wieder aufgemacht. Nach dem Staatsstreich gegen Präsident Gamsachurdia zur Jahreswende 1991/92 lagen weite Flächen der Flaniermeile in Schutt und Asche. Überall stehen Gerüste vor den ausgebrannten Gebäuden. Doch niemand klettert auf ihnen herum. Mit Ausnahme des Regierungsgebäudes, dessen zerschossene Vorderfront keine Zeichen der Zerstörung mehr trägt.

Hinter den oftmals prächtigen neuen Schaufenstern der Geschäfte wird Ramsch feilgeboten. Billigware aus Fernost oder der Türkei, darunter Gasherde und Elektroheizöfen. Doch wer kauft sie? Strom ist rationiert. In ganzen Stadtteilen wird abends nach Einbruch der Dunkelheit die Versorgung gekappt. Kneipen und Restaurants machen dicht. Die Angst, im Dunkeln überfallen zu werden, treibt die meisten früh nach Hause. Früher begann das Leben abends erst richtig zu brodeln, wenn die Öde russischer Städte dort Nachtruhe diktierte. Vorbei, Georgien lebt wider seine Natur.

Spätestens der Abend klärt alle Illusionen. Normalität – leerer Dunst. Doch schon tagsüber stört etwas. Nicht etwa Dreck und Müll, oder Pißgeruch, der aus Hauseingängen entgegenströmt. Sondern die Abgasschwaden der Autos, die in Meterhöhe über dem Rustaweli schweben und sich nicht verziehen wollen. Früher haben gewaltige Bäume sie geschluckt. Die einen raffte der Krieg dahin, die anderen werden abgeholzt und zu Heizmaterial.

Im Parlament ist gerade Sitzung vor lichten Bänken. Junge Leute in Zivil überwachen den Zugang. Es wird über den neuen Militärvertrag mit Rußland debattiert. Oder vielmehr darüber, ob Schewardnadses Regierung das Recht besitzt, eine derart weitgehende Entscheidung ohne das Parlament zu treffen. Auf 25 Jahre will der ehemalige Außenminister der UdSSR Rußland die Möglichkeit einräumen, fünf Militärbasen in Georgien zu betreiben. Die Russen kommen zurück durch die Hintertür. Erst zwangen sie die Kaukasusrepublik in der abtrünnigen Schwarzmeerrepublik Abchasien in die Knie. Als Folge trat Tbilissi im Herbst 93 in die GUS ein. Ende dieses Jahres sollte das russische Militär die letzten Kasernen räumen. Nun werden die Soldaten bleiben. Wohl für immer, befürchtet Guram Berischwili, ein leiser, aber scharf denkender Liberaler aus der Opposition: „Die Unterzeichnung verstößt gegen eine parlamentarische Resolution, die auf der vorläufigen Verfassung beruht.“ Was könne man machen, wenn sich das Staatsoberhaupt nicht ans Gesetz halte, fragt er achselzuckend.

Die Parlamentarier haben sich alle in dicke Mäntel gehüllt. Lange hält es sie nicht auf den Bänken. Auch im Parlament wird nicht geheizt, so laufen sie sich ab und zu warm. Frauen kommen, um zu erfahren, wie lange ihre Männer noch debattieren. Die Wächter lassen sie nicht durch.

Berischwili mißtraut Rußland, „kein einziger Vertrag“ in der zweihundertjährigen gemeinsamen Geschichte, betont er, „der nicht verletzt worden wäre“. Tausende von Malen muß er diese Mahnung schon ausgesprochen haben. Die Russen garantieren im Tausch fürs Stationierungsrecht die territoriale Integrität Georgiens, das hofft, auf diese Weise wieder in den Besitz Abchasiens zu gelangen.

Politisch hat sich in den drei Jahren Herrschaft Schewardnadses nichts zum Besseren gekehrt. Paramilitärs und Bürgerwehren, die früher die Stadt bevölkerten, sind verschwunden. Doch Ruhe ist dafür nicht eingekehrt. Politische Morde sind an der Tagesordnung. Wirtschaftlich kann es eigentlich nicht weiter bergabgehen. Kaum jemand hat Arbeit. Per Dekret verfügte das Staatsoberhaupt, die Industrie zu 51 Prozent in den Händen des Staates zu belassen. Offenkundig hat ihn die alte Nomenklatura unter Druck gesetzt. Das labile Ungleichgewicht macht anfällig für fragwürdige Allianzen, die über Nacht wechseln können. So verwaltet Schewardnadse anscheinend den Status quo. Nur regrediert selbst der noch, wenn überhaupt keine Entscheidungen getroffen werden.

Vor zwei Jahren hoffte Berischwili, dem Heimkehrer aus Moskau werde es gelingen, Strukturen zu schaffen, um das Machtvakuum zu beseitigen. Damals warnte er: „Jeder Misthaufen hat seine Binnenstruktur. Die Würmer finden immer Wege, sich zu ernähren.“

Den Misthaufen scheint die Organisation endgültig übernommen zu haben. Der kleine Mafiosi in der Piano-Bar macht kein Hehl aus seinem Geschäft mit Erpressungsgeldern: „Wir schützen die Geschäftsinhaber vor dem Staat, der sich nicht an seine Gesetze hält.“ Absurd, die Welt steht Kopf. Doch was läßt sich einwenden? Es gibt mehrere Wahrheiten.

Bei Tamas Suladse, er residiert einige Türen weiter im Parlament, folgt der theoretische Anschauungsunterricht. Er ist Vorzimmermann des legendären Warlords Dschaba Josseliani, der sich nach der Vertreibung Gamsachurdias mit Schewardnadse einigte. Suladse steht in der Tradition kaukasischer Märchenerzähler, nur gebricht es ihm an der kaskadigen Wortgewalt seiner Lehrmeister. Hier wird Süßholz geraspelt in äußerster Vorsicht. Unabhängigkeit? „Irgendwie nicht geklappt, so etwas braucht Jahre ...“ Es folgen Elogen an die georgisch-russische Belalliance, an die kulturelle Nähe und den gemeinsamen orthodoxen Glauben.

Immerhin teilt Georgien eine Grenze mit der Türkei. Das südliche Gebiet um die Stadt Batumi hat Rußlands Zar dem Bosporus noch abgerungen. Jetzt ist es ein Stück Georgien. Die vermeintliche Gefahr aus der Türkei wird zur Begründung einer erneuten Anlehnung an den Kreml. Das Gefühl will nicht weichen, handfeste ökonomische Sonderinteressen, die sich nicht unbedingt mit Staat und Volk als Ganzem decken, diktieren diese Sicht. Immerhin wurde gerade ein zweiter Grenzübergang zur Türkei eröffnet, mit der auch reger Handel betrieben wird.

Die „Mchedrioni“, eine paramilitärische Einheit, die Dschaba Josseliani gehorcht, sind die denn nun entwaffnet? Suladse mag solche Fragen nicht. „Natürlich haben sie ihre Waffen an Sammelpunkten abgegeben.“ Er selbst habe seine im Safe im gleichen Haus. Griffbereit, sozusagen. Man beabsichtige, aus der Truppe eine Art „Rettungsgesellschaft“ zu bilden. Unlängst wollte Georgien den Japanern nach dem Erdbeben zu Hilfe eilen. Bräuchte es dazu Kalaschnikows ...? „Nein, aber ...“ Für alle strittigen (Macht-)Fälle soll die irreguläre Armee also doch beibehalten werden. Bewußt wird der Gesetzentwurf ihrer Statusveränderung hintertrieben, hatte Berischwili erzählt. Er muß es wissen, sein Sohn Turnik, ein begeisterter Bergsteiger, versucht seit Jahr und Tag, übergreifende Strukturen eines allgemeinen und Bergrettungsdienstes gesetzlich zu verankern.

Die Mannschaft um Schewardnadse scheint nicht an einem Strang zu ziehen. Irakli Madschawariani dient dem Chef als stellvertretender Leiter des Personalbüros und vertritt Georgien in internationalen Organisationen. Er nimmt sich viel Zeit. Zweieinhalb Stunden prasselt sein Vortrag nieder. Er bietet dem Gegenüber nicht die geringste Chance, eine Zwischenfrage zu stellen, ja, er nimmt sich nicht einmal die Zeit zum Atmen – scheint es. Auch er hält Josseliani die Stange, ohne den Schewardnadse längst gestürzt worden wäre, wie er unverhohlen zugibt. Doch die Dinge mit Rußland sieht der Personalchef ein wenig differenzierter. Taktik. Er bittet um Diskretion. Auf keinen Fall möchte er in Moskau jemandem auf die Füße treten.

Dumpf steigt der Autolärm aus dem Tal hinauf. Oben bei Tamara herrscht Ruhe. Sie empfängt den Fremden über Tbilissi mit einer Schale Wein in der Rechten, dem Eindringling mit bösen Absichten streckt sie das Schwert entgegen. Sie ist die sagenumwobene Landesmutter Georgiens, im 13. Jahrhundert regierte sie das Land mit glücklicher Hand und führte es zu seiner höchsten Blüte. Ihr Metallkleid ist stumpf geworden. Die georgischen Frauen sind ihren Männern überlegen. Sie müssen es nicht unter Beweis stellen, weil es jeder weiß.

Während des Umbruchs sah man sie überall. Heute sind sie aus der Politik verschwunden. Die Stille um Tamaras Denkmal zerreißt ein gleichmäßiges Geräusch. Im Dickicht des Erholungsparks hackt eine unsichtbare Gestalt einen Baum um.