: Keine Entschädigungfür NS-Opfer
■ Seit sechs Jahren kämpft ein Deserteur und „Wehrkraftzersetzer“ des Zweiten Weltkrieges um seine Haftentschädigung
30.000 Todesurteile sprachen deutsche Militärrichter während des Zweiten Weltkrieges gegen Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und „Wehrkraftzersetzer“ aus. Zwei Drittel der Urteile wurden vollstreckt. Harry Budarczyk hatte viel Glück und zählt zu den Überlebenden. Der 1917 in Berlin geborene Harry wuchs ohne Eltern auf. Um den Arbeitsdienst zu umgehen, verpflichtete er sich 1936 freiwillig zu viereinhalb Jahren Wehrdienst. Als 1941 der Einmarsch deutscher Truppen in Rußland begann, wurde die Einheit von Harry Budarczyk nach Poltawa (Ukraine) verlegt. Am 20.8.1941 mußte der junge Soldat zusehen, wie Bewachungsmannschaften der deutschen Infanterie hinterrücks mehrere russische Kriegsgefangene am Straßenrand erschossen.
Harry Budarczyk kritisierte, was er sah: „ein furchtbares Verbrechen“. Zwei Tage später wurde er verhaftet. „Die unmittelbare Verhaftung durch ein Militärkommando im Frontbereich löste in mir Todesängste aus“, erinnert er sich. Nach zwei Tagen Haft in Poltawa wurde der Häftling in das ukrainische Kremenschuk überführt, wo er sechs Wochen in einer Einzelzelle verbrachte, bei schlechter Verpflegung, täglichen Schikanen und in ständiger Ungewißheit. Schließlich lebensrettend war wohl, daß das Feldkriegsgericht nicht tagen konnte – der beisitzende Offizier war zum Feindflug abberufen worden.
Budarczyk wurde zu seiner Einheit nach Setschingskaja in Rußland geschickt, doch diese befand sich „zur Auffüllung“ in Deutschland. Der Soldat fuhr über Minsk zurück nach Berlin, meldete sich aber entgegen dem Befehl nicht bei der Militärdienststelle. Er wollte desertieren. Drei Wochen später jedoch stellte ihn die Militärpolizei bei einer Straßenkontrolle. Nach einer mehrwöchigen U-Haft im Wehrmachtsgefängnis Berlin-Moabit wurde er vom Feldgericht Berlin am 11.2.42 wegen unerlaubten Entfernens von der Truppe zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Das Münchner Feldgericht verurteilte ihn wegen der Ereignisse in Poltawa zu sechs Monaten.
Mitte März wurde der Häftling in das berüchtigte Gefängnis Torgau überführt, wo das Erschießen abtrünniger Wehrmachtssoldaten zur Tagesordnung gehörte: „Demütigende Exerzierübungen, täglich zehn- bis vierzehnstündige Arbeitseinsätze im Straßenbau, ständiger Hunger, Strapazen und Schikanen bis zum Exzeß“, beschreiben Überlebende den Alltag in der Festungshaft Torgau später in einer Dokumentation.
Nach seiner Entlassung im September 1942 befehligte man Budarczyk zur Ersatzabteilung nach Faßberg in der Lüneburger Heide. Kurz vor Kriegsende flüchtete er erneut und schlug sich nach Halle durch. Wegen „Verweigerung des sozialistischen Aufbaus“ wurde er auch dort zweimal verhaftet. 1952 flüchtete er aus der damaligen DDR nach Berlin. Seit 1973 lebt er in Bremen.
Auf seinen Antrag hin wurden seine Verurteilungen 1958 im Strafregister getilgt. An eine Haftentschädigung hatte er damals noch gar nicht gedacht. Erst 1988 besuchte er zu einem ersten Vorgespräch das hiesige Landesamt für Wiedergutmachung. Dort las man ihm das Bundesentschädigungsgesetz vor, das zwar eine Entschädigung für politisch Verfolgte des NS-Regimes, aber keine für Deserteure vorsieht. Da könne ja jeder kommen, habe der Mitarbeiter des Amtes gesagt und ihn an die Oberfinanzdirektion (OFD) Hannover verwiesen, die überprüft, ob ehemalige Wehrmachtsangehörige mit besonders hohen Militärstrafen unter den „Härteausgleich zum Allgemeinen Kriegsfolgengesetz“ (AKG) fallen. Diesen nämlich steht eine einmalige Zahlung von maximal 5000 Mark zu.
Budarczyk war schockiert und beschwerte sich über das Auftreten des Mitarbeiters der Wiedergutmachungsstelle bei Bürgermeister Wedemeier. Der hatte sich ebenso wie Senator Henning Scherf mehrfach öffentlich für eine Entschädigung der Opfer der Militärjustiz eingesetzt. Nachdem neben anderen Städten auch Bremen einen eigenen Fonds für „Wehrkraftzersetzer“ und Deserteure eingerichtet hatte, ermunterte Scherf im April 91 sogar „alle Opfer und ihre Angehörigen“, sich trotz ihrer Verbitterung oder erlittenen Ausgrenzung zu melden.
Harry Budarczyk, der wußte, daß die Inanspruchnahme dieses Fonds nur möglich ist, wenn sämtliche anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, wandte sich im August 1993 zunächst an die OFD Hannover. Im Dezember erhielt er die Absage: Ihm stehe die Entschädigung von 5000 Mark nicht zu, heißt es in der Begründung. Er falle nicht unter die Härtefallregelung, weil sein Einkommen die vorausgesetzte „Notlagengrenze“ von 1.924 Mark monatlich überschreitet. Der Widerspruch des Antragstellers wurde im März 1994 ebenfalls abgelehnt. Harry Budarczyk stellte nun einen Antrag beim hiesigen Landesamt. „Mir ging es nicht um die 5000 Mark, mir geht es um Gerechtigkeit.“
Das Gespräch mit der Sachbearbeiterin im Dezember 1994 empfand der Antragsteller jedoch als „regelrechtes Verhör“. Fragen wie die, ob er unter Willkür zu leiden hatte, sind für Harry Budarczyk „sinnlos“, schließlich müsse sich herumgesprochen haben, „daß NS-Gefangene, ob in U-Haft, KZ oder Festungshaft, immer der Willkür der Wachmannschaft ausgesetzt waren.“ Er ärgerte sich so über „die Abwicklung“ des Antrages, daß er im Januar bei der Senatskanzlei „Protest wegen Mißachtung der Menschenwürde“ einlegte. Doch nicht von dort, sondern von der Wiedergutmachungsstelle erhielt er Antwort, von der Stelle also, über die er sich beschwert hatte. Daß die Senatskanzlei sein Schreiben einfach weitergereicht hat, verletzt Budarczyk zutiefst.
Seinen ganzen Vorgang übergab er jetzt Bürgermeister Wedemeier, dessen Aufruf er wie viele andere BürgerInnen gefolgt war, ihre Erfahrungen mit dem Kriegsende in Bremen in einem Buch zu veröffentlichen. Als Dank erhielt der ehemalige Wehrmachtssoldat vom Bürgermeister eine Ausgabe des Buches „Mut zur Erinnerung und gegen das Vergessen“. Der inzwischen beinahe 80jährige Budarczyk verweist auf Seite 103: „Wir brauchen mehr Gespür für Unrecht, mehr Empfindsamkeit für fremdes Leiden, mehr Empörung über die Verletzung der Menschenwürde.“
Aufarbeitung von Geschichte ist eine schwierige Angelegenheit. Was soll einer denken, der von den NS-Schergen gequält und beinahe umgebracht wurde, aber 50 Jahre später nicht als Verfolgter des Naziregimes anerkannt wird und seit acht Jahren um Entschädigung für die erlittenen Leiden kämpft? Was soll so jemand denken, wenn er gleichzeitig lesen muß, daß Margot Kunz (spätere Pietzner), die für ihre Tätigkeit als Aufseherin einer Außenstelle des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück 10 Jahre in Haft saß, 1994 innerhalb von nur 12 Tagen eine Haftentschädigung von 64.350 Mark zugesprochen wurde, also je Haftmonat 550 Mark? Denen, die sie nachweislich in Ravensbrück folterte und quälte, zahlt die Bundesrepublik eine Entschädigung von 150 Mark monatlich. Dora Hartmann
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