: Gutenberg? Delete!
■ Lesen ist out, jetzt wird hemmungslos durch den Hypertext navigiert. Notizen vom Softmoderne-Festival im Podewil
Seit einiger Zeit erfahren mit französischer Theorie verbundene Schlagworte eine ungeahnte Wiederbelebung. Im Februar versuchten Sebastian Lütgert und Freunde mehr oder minder erfolgreich, eine neue Kulturzeitschrift (Auseinander) in der von Heaven Sent verlassenen Nische außerakademischen Denkens zu plazieren und gleichzeitig „Identitäten überall, wo sie entstehen, anzugreifen“. Das softmoderne 1. Deutsche Hypertext- Festival im Podewil wendet sich einer kaum geringeren Aufgabe zu: Die schon oft totgesagte Institution „Autor“ wird erneut beerdigt.
Diesmal sollen die altmodischen Bewohner der Gutenberg- Galaxis mit Hilfe von CD-ROM-I und Internet zu interaktiven Konsumenten und visionären Operateuren, kurz: Cybernauten mutieren. Wo früher schlicht quergelesen werden konnte, ist inzwischen „Navigieren durch den Hypertext“ erforderlich. In der Praxis führt die gleichzeitige Verfügbarkeit von Ton, Bild und Text auf CD- ROM-I jedoch zu fragwürdigen Ergebnissen: Im Gegensatz zur Dokumentation einer Lesung der sich ohnehin distanziert gebenden Underground-Ikone William S. Burroughs wirken der mangels Speicherplatz unfreiwillig elektronisch verfremdete Live-Mitschnitt einer „Spoken-Words-Performance“ Amiri Barakas und die digitalisierte Präsenz eines Charles Bukowski nurmehr grotesk.
Der amerikanische Schriftsteller Robert Coover („Pinocchio in Venedig“) eröffnete am Donnerstag die Veranstaltungsreihe mit einem zweistündigen Vortrag über Entstehungsgeschichte, Gegenwart und mögliche Zukunft von Hypertext. Coover, der an der Brown University, Providence, als Dozent für kreatives Schreiben tätig ist, demonstrierte anhand von Arbeiten seiner Studenten, wie diese neue écriture automatique funktionieren sollte. Leider, betonte er, stecke das Ganze noch in den Kinderschuhen – auch ein neuer Beckett oder Joyce dieses Genres seien noch nicht in Erscheinung getreten. Die angekündigte Internet-Verbindung fiel aus, und so mußte das eher ratlose Publikum mit einer Diskettenversion des von ihm konzipierten Hypertext-Hotels vorliebnehmen.
Ähnlich ratlos angesichts der unausgereiften Programme und der unklaren Fragestellungen blieb auch das Podium der von Heinz Ickstedt moderierten Diskussionsrunde, die sich ohne roten Faden schnell in Anekdoten und Kulturpessimismus verlor. HU- Professor Friedrich Kittler verwies auf die Kluft zwischen der scheinbar Kreativität ermöglichenden Benutzeroberfläche und der dazu notwendigen mathematisch-logischen Programmierarbeit hin, Filmkritiker Harald Martenstein berichtet über das Soap-opera- Programm „13.000 different Plots“, Ernst-Peter Schneck vom John-F.-Kennedy-Institut warnte vor einer drohenden Zweiklassengesellschaft, die sich in Hyperkultur-Kenner und Hyperkultur- Analphabeten aufteilen würde.
Bernd Willim, der sechs Jahre Fernsehproduktion hinter sich hat, schimpfte auf die „medienverseuchten Durchschnittsbürger“, die kaum noch zur Imagination fähig seien, und verkündete das Aussterben der Leserschaft. Übrig blieb die Frage, ob die ständig Richtung und Ebene wechselnden Hypertexte denn nicht etwas leisteten, was in der postmodernen Literatur schon längst stattgefunden habe.
Heute findet ab 15 Uhr ein einführender Workshop von Heiko Idensen statt. Um 18 Uhr hält Antje Eske einen Vortrag über Dialogformen im Hypertext. Ab 19.30 Uhr stellt Hilmar Schmundt „Hypertext und die Romantik der Softmoderne“ zur Diskussion. Den Blick hinter die Kulissen eines Hypertext-Experiments eröffnet Ruth Nestvoldt um 21 Uhr. Am Sonntag präsentiert Ingeborg Harms („Hard Drive“) um 11 Uhr ihren Text „Brav, alter Maulwurf“, ab 12.30 Uhr gibt es einen „Hyperbrunch“ für 15 Mark mit Vertretern von Pixelpark, Ralph Möller und Art Spiegelman („Maus“). Die zwei letzten Veranstaltungen sind dann ganz dem virtuellen Austausch von Körperflüssigkeiten gewidmet: Um 14.30 Uhr liest Gabriela Prahm aus „Future Sex“, danach zeigt Gusztav Hamos seinen Film „Sexmaschine“. Außerdem ist während der gesamten Veranstaltung ein Blick in den neuen Otto-Katalog, der jetzt auf CD-ROM vorliegt, möglich. Gunnar Lützow
Bis 9. 4., Podewil, Klosterstraße 68-70, Mitte, Telefon: 247 49 777.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen