: Dschingis Khan mit Telefon Von Ralf Sotscheck
Wer Freunde in Großbritannien hat, sollte sie in dieser Woche noch mal anrufen. Danach könnte es nämlich zu spät sein, wenn das Telefonnetz von verzweifelten AnruferInnen blockiert ist, die sich hoffnungslos darin verfangen haben. Am Ostersonntag wird allen Telefonnummern eine 01 vorgeschaltet – außer bei den Städten, die eine völlig neue Vorwahl bekommen. Dadurch kann man später auf die 02 ausweichen, wenn die 01-Nummern aufgebraucht sind.
Die Sache hat freilich einen Haken: Wer dann mit seinem Nachbarn telefonieren will, muß möglicherweise die Ortsnetzkennzahl vorwählen, weil der Nachbar ein neues Telefon mit neuer Vorwahl hat – zum Beispiel 0233. Diese Vorwahl galt bisher für Ashford, ändert sich am Ostersonntag aber in 01233. Um die Verwirrung auf die Spitze zu treiben, läßt man beide Nummern noch eine Weile nebeneinander bestehen. Ausgeheckt hat das ganze die Telecom- Aufsichtsbehörde Oftel. Den Einwand, daß man auch mit einer dreistelligen Vorwahl auskommen könnte, wischt Oftel-Sprecher Arthur Orbell vom Tisch: Der Telefonbedarf sei sprunghaft angestiegen und erfordere radikale Maßnahmen. Merkwürdig.
Was in den USA mit einer Bevölkerung von knapp 260 Millionen Menschen funktioniert, soll in Großbritannien mit weniger als 60 Millionen nicht möglich sein?
Kritiker malen bereits den Teufel an die Wand: Ehen werden an den Kommunikationsproblemen scheitern, Familien werden den Kontakt zueinander verlieren, während Millionensummen für unfreiwillige Gespräche mit völlig fremden Menschen draufgehen. Wer dabei nicht die Nerven verlieren will, muß perfekte Umgangsformen beherrschen. Dabei steht British Telecom ihren KundInnen zur Seite: Nach ihrer Privatisierung vor zehn Jahren gab das Unternehmen einen Telefon-Knigge heraus. Demnach soll man beim ersten Klingelzeichen aufspringen und so schnell wie möglich antworten – wer das Telefon mehr als drei Mal klingeln läßt, gilt als ungehobelt; schon auf dem Weg zum Telefon soll man eine freundliche Miene aufsetzen und danach „direkt in den Hörer hineinlächeln“; im Stehen zu telefonieren „fördert das Selbstbewußtsein und schärft den Verstand“.
Wegen der unterschiedlichen Hirnhälften soll man je nach Art der Konversation das Ohr wechseln: Für die Analyse komplizierter Vorgänge sei das rechte Ohr zu benutzen, schlägt der Gesprächspartner dagegen emotionale Töne an, müsse man den Hörer blitzschnell ans linke Ohr pressen. Über die Benimmregeln hatte sich schon der Dramakritiker George Jean Nathan in den zwanziger Jahren Sorgen gemacht: Das Telefon werde dem Verfall der Sitten Vorschub leisten, prophezeite er damals, weil es „einem Mädchen ermögliche, im Bett zu liegen und mit einem jungen Mann zu sprechen, der ebenfalls im Bett liegt“. Heute gilt das als Safer Sex.
Telecom-Abteilungsleiter Peter Cochrane glaubt, daß wir ohne Telefonnetz alle sterben würden – allerdings nicht aus Mangel an Telefonsex. „Die Gesellschaft würde nicht mehr funktionieren“ sagt er, „das Telefon ist zum Nervensystem unseres Planeten geworden“. Das hatte schon Tolstoi erkannt. Seine Definition für uneingeschränkte Macht: „Dschingis Khan mit Telefon.“
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