Sanssouci: Vorschlag
■ „Le camion“ von Marguerite Duras im Arsenal
In Zeiten größter Verwirrung bietet die Möglichkeitsform eine Ausflucht. Oh, hätte, wäre, könnte, würde! In nichts anderes verliebt zu sein als das, was nie war, was noch nicht ist oder niemals mehr sein wird. Die Story jedes Films bedient sich dieser Illusion, nur gibt sie vor, es sei die Wirklichkeitsform. Gesehen wird, was vorgegeben ist. Marguerite Duras, die Meisterin der Möglichkeitsform, hat 1977 mit dem Film „Le camion“ („Der Lastwagen“) die Umkehrung gewagt: die vorgegebene Story ist genau die nicht, die man sieht.
Ein Lastwagen fährt den ganzen Film über durch eine unspektakuläre Landschaft in Frankreich. Entlang langweiliger Landstraßen, durch stereotype Dörfer, vorbei an unromantischen Fabriken. Nie sieht man, wer im Fahrerhaus sitzt. Gebrochen wird die Fahrt mit Aufnahmen von einem Zimmer, im dem Duras und Depardieu an einem Tisch sitzen und sich den möglichen Inhalt des Films erzählen: Eine Frau mit Koffer hält mitten in einer kargen Landschaft einen Lastwagen an und steigt ein. Im Dialog zwischen Duras und Depardieu wird das Zusammentreffen der zwei fiktiven Menschen entwickelt. Einzige Handlung: die gemeinsame Fahrt. Die Landschaft, die die Frau sieht – Meer, Wind, Erde – ist eine andere als die, durch die der Lastwagen im Film fährt. Immer wieder wird im Dialog von Duras und Depardieu darauf Bezug genommen, wie die beiden Reisenden, die längst synonym für die ZuschauerInnen sind, wahrnehmen. Von „er sieht nur, was er sehen will“ über „sie sieht Dinge hinter geschlossenen Augen“ bis zu „man sieht nichts mehr“. Kurz danach wird der Film schwarz, und man hört wie erzählt wird, daß der Lastwagen vorbeifährt.
Konsequent entläßt der Film damit die ZuschauerInnen endgültig in die eigene Vorstellungswelt. Möglichkeitsform und Flucht liegen in einem selbst. Nur wenige Filme thematisieren das Sehen auf so radikale Weise.
Duras' poetische Lektion wurde von dem vor einem Jahr verstorbenen englischen Filmemacher Derek Jarman in seinem Film „Blau“ zur Vollendung geführt. Man sieht nichts als blaue Leinwand. Der langsam erblindende Filmemacher erzählt von seinem Alltag angesichts seines zu erwartenden Todes. Nach und nach wird die visuelle Leerstelle durch die Welt der eigenen Bilder ersetzt. Weil jeder Mensch eine Farbe anders sieht (oder kann das Gegenteil bewiesen werden?), sehen alle etwas anderes, wenn sie zuhören. Als Jarman schon halb blind über die Straße gehen will und von einem Fahrradboten, der ihn fast überfahren hätte, angebrüllt wird, sehe ich Charing Cross Road in London. Als er die Namen seiner an Aids gestorbenen Freunde zum Geräusch des Meeres aufzählt, sehe ich den Strand, weil ich das Meer immer aus der Distanz sehe. Waltraud Schwab
„Le camion“, am 15. 4. um 22.15 Uhr im Arsenal, Welserstraße 25, Tiergarten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen