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Marx statt Marxismus

Die Marx-Engels-Gesamtausgabe wird nach dem Ende der DDR fortgeführt / Humboldt-Politologe als Herausgeber

Der allmächtige Welterklärer Marx ist tot – aber die MEGA lebt. Mit der Wende 1989 kam zwar die Endzeit für die marxistische Scholastik. Der Herzenswunsch vieler konservativer Feuilletonisten, den Namen Karl Marx nun für immer aus den politischen Wörterbüchern zu streichen, ging aber nicht in Erfüllung. Das traditionsreiche Projekt einer historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke von Marx und Engels (MEGA) wird als Gemeinschaftsunternehmen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Internationalen Marx-Engels-Stiftung in Amsterdam und des Karl- Marx-Hauses in Trier fortgeführt.

Schon in den zwanziger Jahren gab es den Plan, die Werkausgabe (MEW) um eine historisch-kritische Marx-Engels-Gesamtausgabe zu ergänzen. Der jüdische Direktor des Marx-Engels-Instituts in Moskau, David Rjazanov, gab zwischen 1927 und 1932 neun Bände heraus. Doch das auf insgesamt 43 Bände angelegte Projekt wurde nicht vollendet. Stalin ließ Rjazanov und einige seiner Mitarbeiter umbringen. Und in Deutschland verhinderte die Machtübertragung an Hitler 1933, daß das an der Edition beteiligte Institut für Sozialforschung in Frankfurt seine Arbeit fortsetzen konnte.

In den 70er Jahren wurde die Vorkriegs-MEGA in der DDR fortgeführt, mehr als 40 Bände veröffentlicht. Allerdings hatte die Editionsarbeit der mehr als 30 Marxismusforscher in Berlin und Moskau einen entscheidenden Nachteil: Die Wissenschaftler arbeiteten nicht an unabhängigen Instituten, sondern in den Partei-Instituten der SED und KPdSU. „Die alte MEGA aus DDR-Zeit ist nicht schlecht gemacht, aber in den Fußnoten steckt die Ideologie. Was wir jetzt machen, ist eine Fundamentierungsarbeit, ohne die man den Unterschied zwischen Marx und Marxismus nicht zeigen kann“, sagt der Herausgeber der neuen MEGA, der Politologe Herfried Münkler von der Humboldt- Universität.

Ob die MEGA nach der Wende überhaupt weitergeführt werden sollte, war zunächst unklar. Als der Wissenschaftsrat 1991 die Fortführung der MEGA empfahl, gab es von rechts und links kritische Stimmen: Der konservative Politologe Konrad Löw wandte ein, daß Marx und Engels einfach nicht bedeutend genug seien, um ihnen eine Gesamtausgabe zu widmen. Er schlug vor, das Geld besser für den Aufbau in den neuen Bundesländern zu verwenden. Aber auch einige linke Politologen kritisierten die MEGA-Herausgeber, weil ihnen der Bruch mit der Editionspraxis der DDR nicht deutlich genug war. Münkler zitiert, wenn es um Kritik an seinem Projekt geht, gern die elfte Feuerbachthese von Karl Marx, die in der Eingangshalle der Humboldt-Universität prangt. Sie sei nachweislich von Friedrich Engels verfälscht worden. Der Satz „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern“, sei falsch. „Nach dem Urmanuskript heißt es: ,Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern‘“, erläutert Münkler.

Die neuen MEGA-Herausgeber wollen Marx' Gedanken von den ideologischen Überformungen späterer Bearbeiter befreien. Schon Engels, der Marx' Werke als erster herausgab, begann, aus theoretischen Fragmenten eine geschlossene Weltanschauung zu machen. So drängte er Marx, das „Kapital“ zu Ende zu schreiben, obwohl der Philosoph sein Werk

für gescheitert hielt. Marx mag der Schöpfer einiger marxistischer Ideen gewesen sein, aber die Gestalt, in der seine Ideen geschichtsmächtig geworden sind, stammt oft nicht von ihm. Diese Hintergründe zu erhellen ist das Ziel der neuen MEGA. Die neuen Herausgeber wollen nicht Schriften von Klassikern des Marxismus-Leninismus herausgeben, sondern die Bücher, Reden und Artikel zweier Denker des 19. Jahrhunderts. Dabei legt Münkler, der im wissenschaftlichen Beirat von renommierten Kollegen wie Eric J. Hobsbawm, Immanuel Wallerstein, Jürgen Kocka und Iring Fetscher unterstützt wird, besonders Wert auf die Entstehungsgeschichte der Texte.

Neben der philologisch-kritischen Destruktion des Marxschen Werkes, die die MEGA leisten soll, werden natürlich auch unveröffentlichte Texte mit in die Gesamtausgabe aufgenommen. Noch immer sind nicht alle 200.000 Seiten, die die beiden Urväter des Sozialismus hinterlassen haben, ediert worden. Bis zum Jahr 2015 soll die Gesamtausgabe abgeschlossen sein. Um die geplanten fast 100 Bände pünktlich fertigzustellen, ist das Projekt auf das Wesentliche zurückgestutzt worden. Bücher, die Marx nur exzerpiert und mit Anmerkungen versehen hat, und Briefe von Dritten werden in die neue MEGA nicht aufgenommen. Außerdem müssen die sieben Mitarbeiter der Editionsstelle schneller arbeiten als vor 1989. In der DDR brauchten fünf Editoren fünf Jahre für einen Band. Jetzt soll ein einziger Wissenschaftler einen Band in derselben Zeit fertigstellen. Rüdiger Soldt

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