piwik no script img

■ NormalzeitFür eine kritische Prothetik

Dreimal nahmen wir Anlauf zu einem „Berliner Ökonomie“- Journalistenstammtisch. Einmal beendete die Vollendung der Wende dieses regelmäßige Ost- West-Treffen, dann nahm Sontheimer die Sache bei sich zu Hause und mit thailändischem Essen in Angriff, und schließlich kam ein mittwöchlicher „Volxkorrespondenten-Tisch“ im „Torpedokäfer“ zustande, der sich jedoch alsbald zu einem Sklaven-Autorentreff wandelte. Also nicht dem Austausch von Fakten, sondern eher der Feinabstimmung in der Deutung diente.

Neulich kam ich dort durch einfache Tag-Nacht-Verschiebung einen Abend zu spät, blieb aber an der Theke stehen. Neben mir saß der Wirt des Winsenz aus der Winsstraße, früher bei der Anderen leitender Redakteur. Nun hört er schwer und hat sich deswegen gerade ein 2.000-Mark- Hörgerät gekauft. Neben ihm saß Abrißspezialist Jürgen Ahlwiß – mit einem neuen Gebiß. Später gesellte sich noch Lisa dazu. Sie hatte sich auf der Kellertreppe das Bein gebrochen und ging an Krücken. Da mochte ich mich auch nicht länger zurückhalten und holte ein Etui aus der Tasche – mit meiner ersten Lesebrille, 1,8 Dioptrin und entspiegelt, für 68 Mark bei Optiker Wunder, zu dem mich der Arzt (die AOK spricht neuerdings von „Lotsen“), also wohin mich in diesem Fall mein burmesischer Augenlotse Dr. Maung Maung Mra in der Potsdamer Straße quasi überwiesen hatte. Augenarzt Dr. Mra hat nicht nur tolle technische Geräte, eine nette, mit ihm verheiratete holländische Sprechstundenhilfe, sondern auch ganz viele verschiedene ausländische Patienten, wobei die asiatischen leicht überwiegen, weil Schlitzäugige häufiger eine Brille brauchen als Rundäugige, ganz zu schweigen von Würfeläugigen.

Dr. Mra weiß auch eine Menge über Burma und nimmt sich Zeit, mir davon zu erzählen. Ich wollte aber von der Brille eigentlich nur so viel sagen, daß ich sie an der „Torpedokäfer“-Theke aus der Tasche zog, was augenblicklich bewirkte, daß ich mich in die kleine Runde um mich herum einbezogen fühlte.

Wie wir noch dabei waren, uns reihum mit den Geschichten hinter unserer jeweiligen Prothetik zu versorgen, kam Frank mit seiner thailändischen Freundin Ooy an, die – das wußten wir schon – einen Silikonbusen hat; einen schönen, so viel kann man sagen. Nun kam aber das Schönste: Ihr Freund Frank, Steuerberater mit der Wende geworden, hat seit neuestem einen Herzschrittmacher. Kein Witz! Selbst meine Lesebrille ist alles andere als ein Vergnügen. Manchmal finde ich die Durchsicht neblig, dann vergesse ich sie, dann drückt sie auf der Nase, hinterm Ohr, beschlägt und macht mich älter – schon allein, weil ich diese albernen popfarbenen Brillen, die ältere RTL- Moderatorinnen ebenso favorisieren wie jüngste taz-Redakteure, natürlich nicht wollte, und für „Eye Wear“ von Klein-Calvin zu protestantisch bin, andererseits aber mit einer verspiegelten Sonnenbrille wie ein in Ehren ergrauter haitianischer Stasi- Scherge aussehe.

Es wurde trotzdem noch ein ganz vergnügter Abend in unserer Prothesenrunde. Wir beschlossen, uns fortan regelmäßig zu treffen. Frank wollte noch einen Freund mit einem Suspensorium aus Nirosta mitbringen, Lisa kannte jemanden mit einem künstlichen Darmausgang, und ich versprach, meinem Nachbarn Bescheid zu sagen, der, soviel ich wußte, ein Becken aus Porzellan besaß. Irgendwann gesellte sich so ein Penner zu uns, der auch unbedingt dazugehören wollte. Er habe das ganze Maul voller Jacketkronen, prahlte er und bleckte sein Gebiß: zwei Reihen perlweißer Zähne. Aber wir waren nicht einmal nach einigen Bier-Runden bereit, unseren Prothetik- Begriff derart auszuweiten, daß er praktisch jede Verschönerung guthieß. Auch der Hinweis, daß dem doch eine Leidensgeschichte vorausgegangen sei, konnte uns nicht umstimmen. Erst recht nicht der verschämte Hinweis auf Ooys Silikonbusen. Er hatte ihr von Anfang an keine Freude gemacht und war im übrigen Prothetik im ursprünglichsten Sinne: Werkzeug. So wie meine Brille. Um schreiben zu können, muß man lesen (können). Was wir jedoch noch suchen, das ist jemand mit einer Eisernen Lunge. Für den gäbe es sogar Freibier, wurde einstimmig beschlossen. Der Penner fand das bescheuert. Völlig verspielt hatte er jedoch, als er Lisa anbot, ihr seine Faxnummer auf den Beingips zu schreiben – und sie nichts dagegen hatte. Helmut Höge

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen