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■ Das PortraitUnter Beschuß

Für Rußlands Chauvinisten ist er ein elender Nestbeschmutzer, für die gemäßigteren Nationalisten, die nicht gleich – wie Schirinowski – zum Indischen Ozean vorrücken wollen, mittlerweile auch. Sergej Goworuchin legte Mitte der Woche die letzten Hemmungen ab. Als Vorsitzender der parlamentarischen Untersuchungskomission in Sachen Tschetschenien forderte er ein Verfahren gegen Sergej Kowaljow. Der Menschenrechtsbeauftragte hätte Informationen des Gegners verbreitet und damit Landesverrat begangen. Der letzte Angriff gegen Kowaljow erfolgte schließlich am vergangenen Freitag: Boris Jelzin strich den Bürgerrechtler aus der Kommission, die in seinem Auftrag die Menschenrechtslage in Tschetschenien untersucht.

Am Wochenende nun ging jedoch Sergej Kowaljow in die Offensive. Der schmächtige, aber drahtige Mann will seine Immunität vom Parlament selbst aufheben lassen, um vor Gericht zum Massaker in Samaschki aussagen zu können. Dadurch, so meinte er, könnten „zumindest ein paar mehr Fakten“ über die brutale Ermordung von über 200 Tschetschenen in dem kleinen Dorf an die Öffentlichkeit gelangen.

Sergej Kowaljow Foto: Vario-Press

Bekannt geworden ist Kowaljow durch seine Berichte über die Bombardierung Grosnys. Doch bereits zuvor verkörperte er das andere Rußland. Jenes, das es sich erlaubt, trotz aller Nachteile und Leiden, kompromißlos an universellen Werten festzuhalten und sie einzuklagen. Der 65jährige Naturwissenschaftler wurde 1974 verhaftet und saß seine Strafe bis auf den letzten Tag ab: sieben Jahre in einem sibirischen Lager; danach folgten drei Jahre Verbannung des Moskauers im Fernen Osten. Boris Jelzin wurde von Kowaljow lange Zeit, selbst noch während der Auflösung des Parlaments im Herbst 1993, unterstützt. Erst danach begannen sich ihre Wege langsam zu trennen.

Heute will es der Kreml, daß ausgerechnet jener KGB-General, der den Dissidenten 1974 verhaftete, zu höheren Würden gelangt. Er ersetzte kürzlich jemanden, der die Untersuchung eines Übergriffs der Jelzinschen Leibgarde auf die Bürgermeisterei leitete. Die russische Führung wäre jedoch schlecht beraten, ließe sie es wirklich zum Prozeß kommen, denn unabhängig von der Haltung des Gerichts, die Aufmerksamkeit des In- und Auslands wäre Kowaljow gewiß. Klaus-Helge Donath

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