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Wo nichts als sicher gilt

Cooler Blick ins schwarze Gefängnis West-Berlin: Die Retrospektive des Fotografen Michael Schmidt in Essen  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Es gibt eine Kunst, die an den Wundern des Sinnlichen interessiert ist – die Schwimmbadbilder von David Hockney zum Beispiel. Das Gegenteil wäre eine Kunst, deren Verwunderung erst dort beginnt, wo das Sinnliche sich zurückzieht, einen Pakt eingeht mit der Nicht-Form. Folgendes Sujet: eine Durchfahrtsstraße hinter einem Fertigteil-Hochhaus. Nebel, schwarzer Restschnee, ein verdreckter Maschenzaun, der zehn Meter vom Standort des Fußgängers entfernt zu einem undurchdringlichen Geflecht zusammenschnurrt. Eine Fotografie, derart mit Grazie im Unbestimmten stochernd, findet sich in der Retrospektive von Michael Schmidt, die zur Zeit im Essener Museum Folkwang zu sehen ist. Es braucht darauf keinen Menschen (und auch kein Auto), um die Unwirtlichkeit der Situation zu belegen und darüber hinaus die Systematik der Unwirtlichkeit – das irgendwie Unabänderliche. Die Fotografie ist von 1980: genau auf der Mitte des Wegs zwischen den Anfängen Michael Schmidts und jetzt. Der Berliner Fotograf, der Anfang nächsten Jahres vom Museum of Modern Art in New York mit einer zweiten Einzelausstellung geehrt wird, ist von wichtigen deutschen Museen wenig beachtet worden.

Die ersten zehn Jahre Schmidts gelten der Überwindung des Anekdotischen („eine Frau auf der Straße, die ...“ etc.), der Suche nach Haltung. Zunächst verpaßt er sich, als eiserner Dokumentarist, thematische Disziplin. Dann, mit dem Zyklus „Waffenruhe“ (1985 bis 1987), verwirft Schmidt die Denkfigur systematischer Gesellschaftskritik und radikalisiert gleichzeitig seinen Blick auf West-Berlin: gebremster Blick, gebrochener Blick, Schwärzen im Blickfeld, Details. Nach 1989 bleibt Schmidt seinem detaillierten Sujet treu, aber es kehrt eine Ruhe ein, die getragen ist von einem bleiernen Grau. Er hat sich nicht verliebt in die Theorie des Fragments. Überhaupt könnte seine Ausstellung heißen: „Die Rückkehr zur Einfachheit in dem Moment, wo nichts mehr für sicher gilt“.

Sie heißt aber „Fotografien seit 1965“ und signalisiert damit Michael Schmidts Anspruch, daß seine Fotografie nicht für etwas anderes steht: für den Ort, an dem sie entsteht; oder für die These, daß Fotografie Kunst sei. Die Sprache seiner Fotografien ist, von Tautologien ungerührt, fotografisch. Deshalb sind ihm andere Fotografen gefolgt, insbesondere im vergangenen Jahrzehnt. Dirk Reinartz' neues Buch „totenstill“ (über KZ-Gedenkstätten), Paul Grahams mikroskopisches „New Europe“, aber auch die „tastenden“ Arbeiten von Axel Grünewald, Volker Heinze und Gosbert Adler haben seit „Waffenruhe“ Impulse von Schmidts Arbeit bekommen. Daß der Einfluß eines Meisterwerks, das ausschließlich auf Schwarzweißfilm entsteht, bis weit in die Farbfotografie reicht, ist wohl ohne Präzedenz. Bislang war das in der Fotografie eine technologische Schwelle, die Bilder von diesseits und jenseits schwer vergleichbar gemacht hat.

Was an seinem Werk am schwersten zu begreifen ist: das Nebeneinander von Porträts und menschenleeren Bildern. In der „Wedding“-Serie, 1978 als Buch publiziert, wird die Konkurrenz mit einer Systematik gelöst: Die erste Hälfte der umfangreichen Serie zeigt die steinerne Stadt; die zweite Hälfte ihre Bewohner, und zwar im Vergleich: am Arbeitsplatz und zu Haus. Die Menschenbilder, wenn auch sehr steif konzipiert, sind ein Fundus für das Studium von Non- Stilen der siebziger Jahre und werden vom Ruhrgebiets-Publikum mit Amusement, aber ohne Häme goutiert. Die Einheitlichkeit der Serie garantiert ein fast lichtloses Grau, das damals als Instrument von Wahrheitsfindung galt. Aber die ideologische Konstruktion ist unübersehbar. Was Schmidt noch nicht angegangen war, war die Welt dazwischen, sofern sie als Stadtlandschaft oder Interieur nicht zu definieren ist.

Nämlich die Welt der Befindlichkeit, an die er sich mit seiner düsteren Serie von 1980 herantastet. Das Bild der Durchgangsstraße, oben beschrieben, stammt daraus. Plötzlich gibt es (in den vorzüglichen, sehr kleinen Prints) richtige Schwärzen und vor allem tiefe Schwärzen, in denen noch Struktur ist. Die Alchemie des Labors. Alle diese Bilder sind im Gebiet zwischen Anhalter Bahnhof und Scharouns Staatsbibliothek aufgenommen, aber das ist im Titel nicht ausgewiesen. Schmidt, der seine Arbeit jetzt nicht mehr durch Berliner Bezirke finanzieren läßt, entdeckt die Ubiquität einer Örtlichkeit, die zwar „nur dort“ ist, aber mit paradigmatischen Blicken durchkreuzt wird: Ein Ort, nirgends; oder Kein Ort, ebenda. Mit welcher Radikalität seine Bilder, die sich für „die Geschichtlichkeit“ des Areals gar nicht interessieren, Geschichte werden sollten, konnte er nicht wissen. Aber das Faß der Intuition war angestochen.

Porträts tauchen, im Repetitorium des Museums Folkwang, nach 1980 noch dreimal als geschlossene Einheit auf. Einmal als Neuner-Block von Teenagerporträts, in denen die Ratlosigkeit des Fotografen mit dem Bild vom Menschen voll durchschlägt. Dann als fünf riesige Bilder von (vier) Frauen am Arbeitsplatz bei Siemens. Sie reichen aber an die Bilder Lee Friedlanders von Menschen am Computer nicht heran; bergen allerdings eine Überraschung: Die schwarzweißen Aufnahmen sind auf Farbmaterial vergrößert, was ein videomäßiges Grisseln erzeugt. Und dann als eine sehr dichte Serie kleiner Porträts in Stahlrahmen, ohne Passepartout, in der der Fotograf den Betrachter heranführt an die Überlegung, daß es in der Begegnung mit Physiognomien einen „entscheidenden Augenblick“ nicht gibt; wohl aber starke Ströme in Situationen des Übergangs. Vor der Tür des Zufalls steht zwar auch ein Wächter, aber vielleicht kann man ihm eine verpassen und doch mal hineinschauen – in diesen Raum ohne Tiefe.

Während also am Porträt ein Mythos der Fotografie, der Augenblick, relativiert wird, verläßt Schmidt in der Stadtfotografie den „Anblick“. Er entdeckt, daß es zwischen dem potentiellen Rahmen (den die Kamera darstellt) und dem Objekt (das sich in die Geschichte piktorialer Repräsentation schon eingeschrieben hat, zum Beispiel: „die Fassade“) ein System von Schleiern, Vorhängen, Stör- und Streufeldern gibt. Diese werden nun mit äußerstem Geschick im Bildfeld visualisiert. In diesem Zusammenhang, der mit der Härte und Unausweichlichkeit, mit dem schwarzen Gefängnis West-Berlin zu tun hat, wirken dann die eingestreuten Porträts überraschend. Zur Zeit von „Waffenruhe“ sind es punkige Typen mit rasierten Nacken etc., die Schmidt neben Stacheldraht, Mauerwerk und Glas gelten läßt.

In der zuletzt gezeigten Serie sind es zwei Porträts – eines zeigt als großen, geblitzten Kopf seine Ehefrau Karin –, die mit den beruhigten, versperrten Stadt-Blicken konkurrieren. Schmidt ist jetzt jenseits der Psychologie; alles ist Ikone. Er tappt dabei nicht in die Falle des Theatralischen. Die Düsterkeit der Fotografien ist cool. Mit Spaß an der Tristesse und Kunst-Melancholie hat das nichts zu tun: Tarkowski ist nicht der Pate. Vielleicht ist Gerhard Richters RAF-Zyklus (der allerdings nach „Waffenruhe“ entstand) in der Paradoxie von Sujet und Darstellung – etwas wie luzides Geblendetsein – vergleichbar.

Als Schmidt anfing (er zeigt ein paar Beispiele aus den ersten vier Jahren in einer phantastisch eklektischen Serie), verdiente er sein Geld noch als Polizist. An der Werkstatt für Photographie in Kreuzberg war er Lehrer, ohne jemals unterrichtet worden zu sein. Den einsamen Kampf um eine gültige Form sieht man dem Werk des nun Fünfzigjährigen an. Die in der Chronologie der Ausstellung zunehmend exzentrische Rahmung und Hängung allerdings wirkt nicht immer schlüssig, weil die sehr unterschiedlichen Zyklen unter sich im weit geöffneten Zentralraum des Museums ohnehin schwer konkurrieren. Sieht man die Bilder dann im Katalog traditionell – Seite für Seite – präsentiert, möchte man meinen, daß Michael Schmidts publizierte Motive (nicht mehr als zwei Handvoll pro Jahr) ohne jeden Aufwand überleben würden. Widerständig genug sind sie allemal. Es gibt kaum ein Bild, an dem mich nicht irgend etwas stört.

Michael Schmidt: „Fotografien seit 1965“. Museum Folkwang, Essen, bis zum 28.5.1995. Danach in Dublin und in Nord Pas-de-Calais, Duchy, und vom 20.1. bis 29.2. 1996 in der Berlinischen Galerie, Berlin, dann in London.

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