■ Hunderttausend demonstrieren gegen Mexikos Regierung: Nichts zu danken
„Aus Kostengründen“ hätten sie nicht feiern wollen wie in den letzten siebzig Jahren, ließen jene mexikanischen Staatsgewerkschaften erklären, die seit der Revolution zum 1. Mai immer dem Präsidenten danken. Sie haben geahnt, was passieren würde: Hunderttausend Menschen – Mitglieder der zahlreichen neuen unabhängigen Gewerkschaften und Unorganisierte – zogen am Montag zum Zócalo und bescherten der mexikanischen Regierung die heftigste Gegendemonstration, die weltweit irgendeine Regierung zu diesem 1. Mai zu erdulden hatte. Statt eines Dankeschöns die Forderung nach Rücktritt des Präsidenten.
Nun sind seit Beginn des Aufstandes der Guerilla in Chiapas schon oft Zehntausende in der Hauptstadt auf die Straße gegangen, haben ihre Solidarität mit den Zapatistas bekundet und – vor allem im Vorfeld der Wahlen – den Eindruck einer grundlegenden Verschiebung der politischen Gewichte in Mexiko erweckt. Im Wahlergebnis drückte sich diese Stimmung hingegen überhaupt nicht aus – die PRI gewann mit fast so vielen Stimmen wie die Jahre zuvor. Und das lag nicht an Wahlbetrug.
Die Gewalt in Chiapas und die politischen Morde hatten aufgerüttelt – und abgeschreckt. Die Mehrheit stimmte für politische und wirtschaftliche Stabilität – und zu jener Zeit schienen die PRI und ihr Kandidat Ernesto Zedillo auch noch in der Lage, das scheinbar so erfolgreiche ökonomische Rezept des Präsidenten Carlos Salinas fortzusetzen. Das hat sich verändert: Mit der Peso-Krise brach das Bild der wirtschaftlichen Stabilität zusammen, eine halbe Million Menschen verloren seit Dezember ihre Arbeit, die Politmorde entpuppten sich als parteiinterne Skandale. Frust macht sich breit. Die Forderung, dem ehemaligen Präsidenten Salinas als Wirtschaftsverbrecher den Prozeß zu machen, bringt das auf den Punkt: „Der hat uns belogen!“ rufen manche, die Salinas noch vor Jahresfrist als „großen Modernisierer Mexikos“ feierten, der dem Land den Freihandel mit den USA und den Beitritt zur OECD beschert hatte.
Die Ereignisse vom 1. Mai sind noch kein Aufbruch. Noch immer gibt es in Mexiko keine auch nur einigermaßen geeinte Opposition, die sich die Krise der Regierungspartei zunutze machen könnte, ein alternatives Wirtschaftskonzept hat derzeit eh niemand aufzuweisen, und selbst die Guerilla ist seit dem Vormarsch der Regierungstruppen in der Defensive.
So ist dieser 1. Mai vor allem ein weiteres Indiz dafür, wie mit der Kontrolle über die Gewerkschaften eine weitere – und wichtige – politische Säule der sieben Jahrzehnte währenden PRI-Macht wankt. Selbst ohne Wirtschaftskrise wäre eine Modernisierung und Demokratisierung der gesellschaftlichen Institutionen dringend notwendig gewesen – mit der Gewerkschaftskrise rächt sich erneut, daß die PRI genau dies versäumt hat. Bernd Pickert
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