■ Jurij Dawydow, Sicherheitsexperte, zur Zukunft der Nato: Sicherheit auf zwei Stützen
taz: Die russische Ablehnung einer Nato-Osterweiterung wird immer schärfer. Sind die Bedrohungsängste real?
Dawydow: Die Gefahr besteht in einer neuen Fundamentierung europäischer Sicherheit, die auf einer Loslösung von Rußland beruht. Viele argwöhnen, das führe erneut zur Isolation und letztlichen Teilung Europas. Wenn die Nato an die Grenzen Rußlands heranrückt, entsteht ein neues Element in unserem Sicherheitsdenken: Die Streitkräfte müßten umorganisiert, nach der Verlegung von strategischen Objekten müßten neue militärische Einrichtungen geschaffen werden. Inwieweit die Ängste real oder unbegründet sind? Alles hängt davon ab, welche Funktionen die Nato übernimmt. Mit den Anfechtungen des Friedens heute, den nationalen Konflikten, kommt die Nato nicht zurecht. In meinen Augen stellt aber selbst eine Erweiterung bis an Rußlands Grenze keine reale Gefahr dar. Eine gemeinsame Grenze mit der UdSSR existierte schließlich immer. Einziger Unterschied: Im Leningrader Oblast steht die Nato Rußland direkt gegenüber. Sollte das Baltikum Mitglied werden, stellt sich die Lage anders dar.
Könnten Sie sich die Aufnahme einzelner osteuropäischer Staaten vorstellen, ohne daß es zu Mißstimmungen im Kreml kommt?
Osteuropa drängt wegen Rußland in die Nato. Der Grund besteht nicht in der Aggressivität Rußlands, eher in seiner Instabilität und Unvorhersehbarkeit. Wir treffen auf ein Paradox: Beide, Osteuropa und Rußland, appellieren an den Westen, miteinander in einen Dialog zu treten. Die Verbindungen zu den ehemaligen Verbündeten sind abgekühlt, bewegen sich auf sehr niedrigem Niveau. Bei der anstehenden Modernisierung können sie sich gegenseitig nicht nützlich sein.
Offiziell wendet sich Rußland gegen jegliche Erweiterung. Allerdings wäre es nicht weniger gefährlich, sollte Osteuropa nicht in die Strukturen integriert werden. Über kurz oder lang würde der Kampf um Einflußsphären dort und in den Nachfolgestaaten der UdSSR ausbrechen. Klar ist: Ohne Nato keine Sicherheit in Europa, desgleichen nicht ohne Osteuropa und Rußland. Wird Rußland übergangen, rotten sich in diesem Land sehr schnell Kräfte zusammen, die behaupten werden, dieser Block richtet sich gegen uns.
Anstatt ein Sicherheitssystem en bloque aus dem Boden zu stampfen, könnte man vielleicht in kleinen Schritten vorwärtsgehen ...
Man muß ein neues europäisches Sicherheitssystem entwickeln, das mehrere Komponenten umfaßt. Möglichkeiten sollten offengehalten werden, da die Verbindungen zwischen den Partnern durchaus unterschiedlicher Natur sein dürften. Tritt Osteuropa ein, müßte die Nato gleichzeitig einen Vertrag mit Rußland über Garantien wechselseitigen Beistands abschließen. Grundlage wäre, daß die Sicherheit in Europa auf der militärpolitischen Zusammenarbeit der Nato und Rußlands fußt. Ich nenne das eine Zwei-Stützen- Konzeption. In deren Rahmen wäre Raum für weitere bilaterale Verpflichtungen gegenseitiger Sicherheit. Auch Zugeständnisse seitens Osteuropas sind denkbar, wie ein Verzicht auf die Stationierung von Kernwaffen und fremden Truppen auf ihrem Territorium, es sei denn, es geschähe in Abstimmung mit Rußland.
Ginge man den Komplex einzeln, Punkt für Punkt, an, ließen sich die Probleme leichter bewältigen und Rußland könnte sich auf eine Nato-Erweiterung einlassen.
Können sich die Militärs eine enge Verflechtung mit der Nato überhaupt vorstellen, oder dreht sich ihnen da nicht der Magen um?
Vierzig Jahre Kalter Krieg sind nicht folgenlos geblieben. Die Militärs benötigen eine Übergangsperiode, um sich einzugewöhnen. Kommunisten und Militärs sehen ganz richtig in der Partnerschaft deren politische und weniger ihre militärische Dimension. Denn warum wollten sie das Abkommen nicht unterzeichnen? Zu beliebiger militärischer Kooperation sind sie ja bereit. Der Haken liegt in der Rahmenvereinbarung, die zivile Kontrolle über die Armee vorsieht, was unsere Generäle nicht wollen. Desgleichen zivile Kontrolle des Armeehaushalts, auch das widerstrebt ihnen, und die Demokratisierung der Armee, wovon unsere Militärs nun gar nichts hören mögen. Gemeinsame Manöver gerne, doch mehr läuft nicht. Andererseits ist die Partnerschaft auf verschiedenen Ebenen schon in Bewegung. Die Nato-Diskussion wirft ein falsches Licht. Neunzig Prozent der Russen interessiert die Nato-Erweiterung überhaupt nicht. Von antiwestlicher Stimmung kann keine Rede sein. Im Gegenteil, die Jugend will so leben wie dort. Lediglich die Alten wehren sich, da sie sich nicht von ihren Illusionen freimachen können.
Der Kreml favorisiert eine Umstrukturierung der OSZE ...
Rußland muß die Zusammenarbeit mit der EU verstärken. Auf zwei Stützen sollte die europäische Sicherheit ruhen. Außerdem muß ein Platz fürs Baltikum und die Ukraine gefunden werden. Bisher beschränkt sich das Wirken der OSZE auf normative Vorgaben, die Sicherheitsstruktur fehlt, daran könnte man etwas ändern. Mit der Zeit stünde es an, die OSZE in eine politische Struktur zu verwandeln, die als Dach fungiert. Denkbar wäre eine regionale Struktur im Rahmen der UN.
Welche Rolle mißt Rußland der Westeuropäischen Union bei? Gibt es da Spekulationen, sie als Vehikel zu benutzen?
Die Amerikaner betrachten die WEU als ein Anhängsel der Nato. Westeuropa sieht in ihr ein Mittel, die Nato umzugestalten. Außerdem ziehen sich die USA allmählich aus Europa zurück. Ihre Interessen orientieren sich mehr im Raum des Stillen Ozeans. Die Perspektive einer asiatischen Gemeinschaft im Stillen Ozean ist sehr real. Westeuropa entstünde mit Japan, China und den USA ein ernsthafter Konkurrent. Das legt eine engere Kooperation zwischen Westeuropa und Rußland nahe. Bisher fehlen der WEU noch Strukturen. Als Beobachter macht Rußland schon mit, vielleicht wäre ein Mitwirken als assoziiertes Mitglied denkbar. Allerdings verbietet es sich, der WEU gegenüber der Nato den Vorzug zu geben.
Rechte und linke Kreise liebäugeln immer noch mit einem besonderen Verhältnis zu Deutschland. Besteht da eine reale Gefahr?
Ein solches Verhältnis zwischen beiden Ländern halte ich für unwahrscheinlich, da wir diese Grenze schon übersprungen haben.
Und die euro-asiatische Komponente?
Leider folgt unsere politische Kultur asiatischem Muster, während Geschichte und Kultur europäisch ausgerichtet sind. Trotz allem stellt Rußland etwas Eigenständiges, eine besondere Kultur dar. Dieser euro-asiatische Bund, wie ihn Kasachstans Präsident Nasarbajew möchte, führt zu nichts. Die islamische Welt steht für sich. Man braucht nur Tadschikistan, Usbekistan und selbst Kasachstan anzuschauen. Asien wirft Rußland immer zurück. Eine Isolation Rußlands ist heute schon unmöglich. Eine Selbstisolation Europas wäre tragisch für uns. Interview: Klaus-Helge Donath
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