■ Argentinien – Wahlen zu Zeiten des Neoliberalismus: Fetisch Stabilität
Als „Votum für die Stabilität“ haben viele Medien den überwältigenden Wahlsieg des argentinischen Präsidenten Carlos Menem am vergangenen Sonntag interpretiert. Was aber in Wirklichkeit viele WählerInnen umtrieb, war schlichte Angst vor dem finanziellen Ruin. In der Hauptstadt Buenos Aires verlor Menem zwar knapp gegenüber seinem Konkurrenten José Octavio Bordón – aber hier gewinnt die Opposition fast schon traditionell, und immerhin fuhr Menem das beste Ergebnis der Peronisten seit den Tagen Peróns selbst ein.
Gerade in Buenos Aires dürfte ein Typus von Wählerstimmen für das gute Abschneiden der Regierung entscheidend gewesen sein: die Mittelschicht, die sich – angezogen vom Importboom der Dollar- Peso-Parität und ausgestattet mit allen möglichen Arten von Kreditkarten – bis über beide Ohren verschuldet hat. In fast allen Läden kann in Raten bezahlt werden, ob nun der neue Rasierapparat, das Auto oder die CD. Da die Geschäftsinhaber aber nicht so großes Vertrauen in die Währungsstabilität haben, wie die Regierung es gern hätte, laufen alle diese offenen Rechnungen in Dollar – während die Gehälter freilich weiterhin in Pesos gezahlt werden. Wird jetzt kräftig abgewertet, ist ein guter Teil der Bevölkerung von Argentiniens Hauptstadt gnadenlos überschuldet. Kein Wunder, daß „Stabilität“ ein Schlüsselwort für die Wahlentscheidung am vergangenen Sonntag war, und die konnte die Regierung nicht nur besser versprechen, weil sie eben schon Regierung war, sondern auch, weil sich Menem mit Domingo Cavallo einen Wirtschaftsminister zugelegt hat, dem weithin vertraut wird. Die oppositionelle Frepaso hingegen hatte noch überhaupt kein Wirtschaftskabinett vorgestellt, und die Unión Civica Radical von Ex-Präsident Raúl Alfonsin kündigte realistischerweise an, die Währungsparität vom Peso zum Dollar schrittweise aufheben zu wollen, um die Exporte zu fördern – und erhielt das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte.
Die „Stabilität“ aber, die sich die WählerInnen wünschen und die PolitikerInnen versprechen, ist ökonomisch eine Lüge und politisch fatal für die Entwicklung der Demokratien Lateinamerikas. Eine Lüge, weil den argentinischen Finanzkreisen längst klar ist, daß eine Abwertung des Pesos kommen muß, nicht zuletzt, weil in den kommenden fünf Jahren zahlreiche Tilgungszahlungen ans Ausland fällig werden.
Politisch kann mit der Ankündigung, daß sich an der neoliberalen Politik nichts ändern wird, derzeit offenbar jede Wahl in Lateinamerika gewonnen werden. Der Wunsch nach Stabilität gibt den Regierungen einen fast uneinholbaren Vorteil – ob nun Fujimori in Peru, die mexikanische PRI noch vor dem Kollaps oder nun auch Argentinien –, gerade die, die am meisten unter den Maßnahmen der ökonomischen Liberalisierung zu leiden haben, die aus den privatisierten Betrieben gefeuert werden, deren Kranken- oder Rentenversicherung nichts mehr wert ist – gerade sie sind es oft, deren Wahlentscheidung am meisten vom Hohelied der Stabilität beeinflußt werden kann.
Es ist die Angst, bei jedem erneuten Wechsel wieder die Dummen zu sein und auch das Letzte noch zu verlieren. Es ist auch das Gefühl, daß all die Opfer doch nicht umsonst gewesen sein können. Schließlich war es doch der Minister selbst, der den Aufschwung als sicher prognostizierte. Und Menem höchstpersönlich hat noch am Abend seiner Wiederwahl erneut Vollbeschäftigung versprochen. Ergebnis: In fast allen Krisenregionen mit Ausnahme der Hafen- und Industriestadt Rosario gewann der „Menemismus“ überdurchschnittlich hoch. Und in Brasilien zeigte die Wahlentscheidung zugunsten Fernando Henrique Cardosos, wie Wirtschafts- und Finanzsektor einen Kandidaten zunächst aussuchen und dann gewinnen lassen können – immer unter dem Zeichen der Stabilität und der wirtschaftspolitischen Kompetenz.
Regieren unter neoliberalen Vorzeichen, das heißt die permanente Transformation des Staates. Der spielt in Lateinamerika, geprägt von den ökonomischen Doktrinen der Dependenz-Theorie der siebziger Jahre, noch immer eine bedeutende Rolle als Arbeitgeber und oft Eigentümer der industriellen Schlüsselsektoren – soweit vorhanden. Die neoliberale Doktrin gebietet, sich davon so schnell wie möglich zu trennen. In der ökonomischen Sphäre entwickelt sich der Staat vom Akteur zum Vermittler. Was auf den ersten Blick erstaunt, ist, daß die neue, eingeschränkte Rolle der jeweiligen Regierungen gerade nicht eine Kaste von blassen Technokraten hervorgebracht hat – sondern eine Riege von Präsidenten, deren Profil sich vor allem im eigenwilligen Umgang mit staatlichen Institutionen und demokratischen Spielregeln – die in Lateinamerika noch keine Selbstverständlichkeit sind – zeigt.
Präsident Menem versprach 1989 die Bekämpfung der Inflation, radikale Gehaltserhöhungen und eine „produktive Revolution“. Tatsächlich ist die Inflation auf Kosten einer miserablen Zahlungsbilanz bekämpft worden. Kaufkraft und Produktion hingegen sind im Keller, das Land um einige Regierungsskandale reicher. Der Einfluß des menemistischen Hofstaats ist derart groß, daß sogar viele der Anhänger Menems befürchten, er werde den „Stabilitätskurs“ zum Kentern bringen, sich für die ersehnte wirtschaftliche Entwicklung als dysfunktional erweisen.
Die Liberalisierungsstrategie geht auf Kosten der politischen Kultur, sie befördert diktatorische Regierungen. Wo die Gesamtheit der politischen Sphäre an Einfluß verliert, steigt die Macht der Exekutive disproportional. Daß sich Menem und sein Vorgänger Raúl Alfonsin im vergangenen Jahr im „Pakt von Olivas“ auf eine Verfassungsänderung einigen konnten, die die Wiederwahl Menems überhaupt erst möglich machte, erklärt sich vor allem aus dem Wunsch der Radikalen Partei, irgend etwas mitentscheiden zu können.
Wie ist es möglich, fragt sich die Hälfte Argentiniens, die Menem nicht gewählt hat, daß dieser Typ, dessen Bestechungsskandale und Affairen alle kennen, der in rasanter Geschwindigkeit das Gegenteil von dem behauptet, was er eben noch vertreten hat, ein machtgeiler Poseur und Kitschproduzent, mit riesiger Mehrheit wiedergewählt wird? Antwort: gerade deshalb. Die Präsidenten und die Parteien haben heute exakt zwei Propagandamöglichkeiten: den Wirtschaftsteil der Zeitung oder die Klatschspalte. Die Klatschspalte ist bequemer. Politiker wie Brasiliens Ex- Präsident Collor haben lediglich den Fehler begangen, die Schamgrenze zu überschreiten. Nur gegen solche maßlose, törichte, geradezu exzentrische Bereicherungssucht hat die Linke in Lateinamerika derzeit eine echte Chance. Bernd Pickert, Buenos Aires
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen