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Schotter zu Kohle!

Tourismus auf Lanzarote: Natur wird verbaut und hübsch hergerichtet. Die Insel ist heute schon ein Modell virtueller Wirklichkeit  ■ Von Christel Burghoff

In César Manriques Wohnhöhle leben? Unter einem erkalteten Lavastrom auf Lanzarote? Warum nicht – geschenkt würde ich das Manriquesche Anwesen natürlich nehmen. An den schwarzen Schotter ringsum würde ich mich schnell gewöhnen. Darüber wölbt sich der blaue südliche Himmel. Man sieht ihn selbst aus den Höhlen heraus. Es sind Gasblasen, und sie sind nach oben hin offen. Bäume wachsen daraus. Abgeschieden von der Welt Ruhe finden bei den Sphärenklängen und Obertonchören, die den Besuchern vorgespielt werden...? Nur eine Stunde täglich einsame Versenkung, stelle ich mir vor, und den Rest des Tages hätte ich locker im Griff. Oberirdisch liegen die großen weißen modernen Räume. Die klaren Farben gefallen mir. Das Schwarz der Lava, das universelle Weiß, das auch im Innern der Gasblasen dominiert, üppige grüne Pflanzen, der Swimmingpool ist noch blauer als der Himmel selbst. Und erst diese scharfen roten Lederpolster, auf denen man sich so bequem räkeln könnte! Manriques Ambiente ist verführerisch. Der Maler und Bildhauer war ein Vertreter abstrakter Kunst. Man merkt es. Bei aller Archaik – sein Haus ist modern.

Manrique ist seit fast drei Jahren tot. Sein Wohnhaus, heute eine Stiftung, wurde zum touristischen Highlight – wie viele andere Projekte Manriques: beispielsweise der Mirador del Rio, den wir, eine Studiengruppe der Thomas-Morus-Akademie, ebenfalls besichtigen. Das Restaurant ist in die hohen Felsen eingearbeitet wie ein futuristischer Adlerhorst, auf dem man schon halb im Himmel schwebt und übers Meer blickt mit offener Sicht zur Insel La Graciosa. Oder die Jameos del Agua, ein riesiger vulkanischer Tunnel mit unterirdischer Lagune, den Manrique ohne Scheu vor den natürlichen Gegebenheiten für Großveranstaltungen ausgerichtet hat – mit Restaurants, einem Konzertsaal, mit Terrassengärten voll von überbordenden Pflanzen und last but not least einem wohlgeformten Swimmingpool. Wir sind wie andere interessierte Touristen in einem Ausflugsbus zu den Sehenswürdigkeiten unterwegs und können Manriques Schaffen und Sterben wie ein antikes Drama verfolgen. Als „Ironie des Schicksals“ wird bezeichnet, daß ausgerechnet dieser Mann, der Autofahren haßte, bei einem Verkehrsunfall auf seiner autoreichen Heimatinsel starb. Ein Verlust für Lanzarote. Denn es ist Konsens, daß Manrique eine „Symbiose zwischen der Schöpfung der Natur und der des Menschen“ gefunden habe und damit zukunftweisend war; auch: daß er ein Naturschützer war. Manrique gehörte der Umweltgruppe El Guincho an. Manrique ist das Markenzeichen Lanzarotes. Bis hin zum gefragtesten Souvenir, einem Teufelchen, das er für den Nationalpark Timanfaya entwarf, ist er allgegenwärtig.

Konsens auch bei der Studiengruppe: Manrique wird in jeder Hinsicht hoch gelobt. Wie Martin Müllenmeister vom Reisemulti TUI und kooperierender Tagungsleiter treffend bemerkt, interessierten sich Künstler normalerweise nicht für Tourismus. Und Architekten rümpften die Nase, wenn es um den Bau von touristischen Anlagen gehe. Der Tourismus werde mißachtet, meint der Mann von der TUI. Kein Wunder, daß Manrique bei dem Großveranstalter gut angesehen ist. Auch Manrique wollte im Grunde genommen nur eines: Tourismus. Er plante und produzierte Kunst für die touristische Zukunft Lanzarotes. Aber er wollte keinen Massentourismus, sondern eine „elitäre Variante“, bemerkt der Manrique- Spezialist Manfred Sack. Mit anderen Worten: das Besondere für besondere Menschen in gestylten und gestalteten touristischen Urbanisationen; architektonisch das Inseltypische statt der üblichen Konfektionsware, die das Übliche im Tourismus so häßlich macht. Klein, fein und teuer sollte es werden. Als dies danebenging, als die Touristen schließlich doch massenhaft auf das besondere Lanzarote einfielen und auch Manriques liebster Partner, der Konzern Rio Tinto, aus den schönen Plänen auch gute Geschäfte machen wollte, wurde der Künstler sauer. Er probte den Aufstand. Im Spiegel beschimpfte Manrique Investoren, Politiker und Spekulanten reihum als Geier und Spitzbuben. Aber dies ist vorbei und vergessen. Der tote Manrique ist ein guter Manrique. Denn jetzt, wo die Landschaft großflächig für den Tourismus erschlossen ist, fällt es auch den Verantwortlichen dieser Entwicklung leicht, sich auf den Künstler und Naturschützer zu besinnen.

Doch wie sieht dies aus? Wenn Generaldirektor Carlos González (Ministerium für Verkehr und Tourismus der Kanaren) über die „Realitäten des Tourismus“ referiert, so ist er sichtlich zufrieden. „Der Wohlstand kam mit dem Flugzeug“, erklärt er. Stolz blickt er auf die Vergangenheit zurück und hoffnungsfroh in die Zukunft, die Lanzarote derzeit 8,15 Prozent Zuwachs der Touristenzahlen pro Jahr verspricht. Mit Dank erinnert er sich an die „große Zukunftsvision des glänzenden Künstlers César Manrique“, der mit der „entscheidenden Unterstützung des damaligen Präsidenten der Inselregierung die Grundlagen für den heutigen Tourismus legte“. 1994 kamen 1,25 Millionen Besucher. Rund 60.000 Betten stehen bereit, und im Einsatz sind mindestens 30.000 Pkws. Vom Auswanderungsland wurde Lanzarote zum Einwanderungsland. 65.000 Einwohner sind dauerhaft gemeldet. Mindestens 35 Prozent sind direkt im Tourismus beschäftigt, es herrsche praktisch Vollbeschäftigung. Mit der Umwelt gehe alles klar. Lanzarote habe den Weg zu einem haltbaren Tourismus mit Umweltschutz gefunden, „wobei die Landschaft und die Wirtschaft ein perfektes Binom bilden“. Es gebe mittlerweile einen Flächennutzungsplan, den PIOT, der die Bebauung beeinflusse. Von großer Bedeutung sei der Baustopp von 1992, erklärt der Generaldirektor.

Dies stimmt und es stimmt nicht. Denn viele Projekte befinden sich in Planung. Wir besichtigen geisterhafte Stätten, die wie Kulissen wirken – wären da nicht immer wieder Schilder mit „Se vende“ – es werden Käufer gesucht. Die touristischen Einrichtungen in den Urbanisationen sind oft noch leer oder schon wieder verlassen. Im Süden der Insel, nahe den Papagayo-Stränden, sind mitten in der kargen Landschaft breite, prachtvolle Boulevards angelegt, beidseitig mit Palmen bepflanzt. Die Straßen führen schlicht ins Leere. Parzellen, auf denen noch Tausende von Betten für gut betuchte Eigentümer entstehen sollen, sind grob zu erkennen, sie werden von Laternen gesäumt. Die ersten Laternen verrotten schon wieder, eine nach der anderen geht in Schieflage. In Puerto Calero, südlich vom Mammutbetrieb in Puerto del Carmen, bestehen Planungen für einen exquisiten Jachthafen. Ein neuer touristischer Ort soll entstehen. Voll synthetisch. Die Planer kokettieren mit dem südamerikanischen Kolonialstil. Der Jachthafen ist fertig gebaut und wird bereits von Booten frequentiert. Aber die Urbanisation besteht – bis auf einzelne Einrichtungen – bislang nur als Modell. Wir besichtigen es: es steht in einem Ausstellungskasten unter Glas. Müllenmeister von der TUI spricht von einem „schönen Traum“, von dem er allerdings weiß, daß er längst nicht geplatzt ist. Denn bei den Geisterorten wird es nicht bleiben. Der sogenannte Baustopp geht auf einen starken Markteinbruch von 1992 zurück; letztendlich wird alles bebaut werden – wenn erst die Investoren wieder auf die Insel einfallen. Die Baugenehmigungen, die noch vor Jahren erteilt wurden, lange bevor der PIOT, der Landschaftsplan, entstand und von Landschaftsschutz die Rede war, sie gelten natürlich weiter. Für „Freizeitanlagen“ wie Golfplätze gelten die neuen Vorgaben ohnehin nicht.

Da erstaunt es doch sehr, daß Lanzarote unlängst zum Biosphärenreservat erklärt wurde. Wenn die Unesco diese Auszeichnung verleiht, dann meint sie funktionierende Ökosysteme, die so wertvoll erscheinen, daß sie erhalten werden sollten. Was wurde hier prämiert? Manriques Werk, ein vulkanischer Schotterhaufen, die Urbanisationen, der Nationalpark, der dörfliche Inselstil, die touristischen Qualitäten? Die Antwort ist simpel: Auch dies ist ein schöner Plan vom Einklang des Menschen mit der Natur, eine Hoffnung, die sich mit einer schönen Landschaft verbindet. Dabei müßte, psychologisch gesehen, diese schwarze Landschaft eigentlich abschrecken. Denn schwarz, so weiß der Common sense, ist keine Farbe. Vielmehr ein Anreiz für Depressive. Schwarz ist ein Zeichen von Negativität. Auf den ersten Blick wirkt die halbe Insel wie geteert. Statt der bekannten grünen Felder: einzelne Pflänzchen auf schwarzen Parzellen mit sorgfältig geharktem oder trichterförmig gehäufeltem schwarzem Splitt. Als hätten sich die Pflanzen mühsam durch Asphalt ins Freie gearbeitet. Natürlich ist dies ein kunstfertiger Trick. Denn die schwarze Asche eignet sich vorzüglich zum Bodendecker und Feuchtigkeitsschutz. Und sie ist nährstoffreich. Als nach den Vulkanausbrüchen vor 250 Jahren ein Viertel der Insel unter Lava und Asche lag, entdeckten findige Bewohner den landwirtschaftlichen Anbau per Lavaasche. Wo die Erde nur locker bedeckt war, wurde bis zur Erdschicht gegraben und gepflanzt, dann mit Asche rundum gehäufelt. Vor allem im Weinanbaugebiet La Geria wurde dieses Verfahren noch mit halbrunden Windschutzmäuerchen vervollkommnet: Sie schützen die Weinstöcke vor den stetigen, kalten Nordostwinden. Eine Landschaft wie vom Grafiker entworfen ist hier entstanden. Hier hat Kunstfertigkeit ein wahres Landschaftskunstwerk hervorgebracht. Schwarz, wohin das Auge blickt, gerastert durch halbrunde Mäuerchen, und in vielen Trichtern leuchten die grünen Pflanzen. Grund genug, diesen Stand der Dinge für alle Zukunft zu sichern, wie es mit dem Biosphärenreservat beabsichtigt ist. Es gibt weitere Zeugnisse für die Einzigartigkeit dieser Insel, und auch diese gelten als schutzwürdig. Es wurde ein detailliertes Programm für einen künftigen „Qualitätstourismus“ ausgearbeitet. Auch an die Sensibilisierung der Urlauber wurde gedacht. Doch eine Verankerung in der Gesetzgebung gibt es nicht. Falls die Inselregierung nicht den Plänen folgt, dann wird das Prädikat „Biosphärenreservat“ notfalls wieder aberkannt. Und dann geht es sowieso weiter wie gehabt.

Auf einer lebensfeindlichen Insel wie Lanzarote konnte es einen Fortschritt naturgemäß nur per Kunstfertigkeit geben. Lanzarote liegt am Rande der „Ökumene“, erklärt Prof. Toni Breuer. Er meint damit: am Rande der bewohnbaren Welt. Die Bauern sicherten ihr Dasein in der Vergangenheit mit landwirtschaftlichen Verfahren, die aufwendig waren. Es gibt auf Lanzarote keine einzige Süßwasserquelle mehr. Das Wasser wurde in Zisternen gesammelt – wenn es denn mal regnete. Heutzutage geht ohne Meerentsalzungsanlagen gar nichts. Das Süßwasser wird künstlich erzeugt. Hier hilft nur die moderne Technologie, aber sie bedeutet Abhängigkeit von importierten Ressourcen. Lanzarote ist fast vollständig auf Öl angewiesen. Manrique versuchte per Kunst, die Insel wirtschaftlich anzukurbeln. Er hat mit dem „Material“ Lanzarote gearbeitet wie ein selbstverliebtes Kind im Sandkasten, das sich darin seine Welt formt. Es muß Spaß gemacht haben.

Im Nationalpark Timanfaya wird Naturschutz dagegen wörtlich genommen: Der Umweltzerstörer Mensch wird an die Kandare gelegt. Wir sind zum puren Sightseeing verurteilt. Nur im Touristenbus dürfen wir einen Blick auf die originalen Schotterhalden und Krater, auf Geröll, Schlacke und erstarrte flüssige Lava nehmen. Niemand darf raus. Und nur im Zeittakt dürfen die Busse in die dunkle Mondlandschaft rein. Wenn sich die Schranke hebt, dann klingen aus den Lautsprechern des Busses leise Sphärentöne an, synthetisch erzeugte, meditative Klänge, die uns auf das mentale Ereignis „Naturkatastrophe“ einstimmen. Für diese Sightseeing-Tour gibt es eine spezielle Kassette. Wir fahren über eine extra angelegte, schmale Teerstraße, schwarz wie die Landschaft selbst. Die Musik variiert: stilisierte Choräle, Mönchsstimmen, Kirchenmusik. Es wird feierlich, wenn wir in die Aschewüste vorgedrungen sind. Ein Kirchenmann verblieb während der jahrelangen Vulkanausbrüche auf der Insel und führte Tagebuch. Eine getragene Stimme schildert seine Erlebnisse in Deutsch und zitiert aus den Originaltexten. Sechs Jahre gingen ins Land, erzählt die Stimme, und die Ziegen wurden wahnsinnig. Sie sollen selbstmörderisch mit den Köpfen an die Felsen gerannt sein, bis sie endlich tot waren. Das Grauen über die berstende Erde muß unermeßlich gewesen sein.

Der Bus stoppt ab in den Tälern des Grauens. Im „Tal der Ruhe“ haben wir die erstarrte Glut zum Greifen nahe – durch die Scheibe. Zeit zum Fotografieren. Nahaufnahmen sind möglich. Wenn wir weiterfahren, dann hat sich auch der Bus vor uns in Bewegung gesetzt. Manchmal sieht man ihn. Vorbei an kleinen „Öfen“ und großen Kratern, in denen der Teufel am Werk war, wie die Bezeichnungen nahelegen. Auf der langsamen Fahrt zum höchsten Krater werden Passagen aus Mozarts „Requiem“ abgespielt. Wir schwingen uns empor zu großartigen Ausblicken über die Krater und Kratertäler; die Asche hat sich zu großen Wellen geformt. In der Ferne das Meer. Ein erhabener Anblick auf die mächtige Natur. Kurz genossen. Und als wir die letzten Schleifen fahren, da ertönt „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss – unvergessenes Motiv aus dem Film „2001 – Odyssee im Weltraum“. Präzise beim letzten Ton hält der Bus an der Ausgangsschranke. Hier hat das dramatische Erlebnis seinen perfekt geplanten Abschluß gefunden.

Seltsam eigentlich, daß so Naturschutz aussehen soll. Und daß dieses inszenierte Naturspektakel so unheimlich gut ankommt. Daß folgsam ein Programm goutiert wird, das nun auch Natur als eine aufgepeppte Touristenattraktion verkauft. Denn diese Natur ist proper, sauber, wie ein Film, der das Gruselstück „Naturkatastrophe mit Happy-End“ in Szene setzt. Ein Dauerrenner, dieser Film. Wohl wegen Schönheit und Erhabenheit hat er sich als große Kunst der Natur in die Herzen des Publikums gespielt. Im Bus abgeschirmt, auf die pure Konsumentenrolle reduziert, lassen sich jährlich 1,75 Millionen Touristen durch den Nationalpark schleusen – das sind sogar noch mehr Menschen, als Lanzarote an Touristenankünften zählt. Der Psychologe Reinhard Schober wirft die Formel von der „Abrüstung der Reize“ in unsere Runde, um die Faszination dieser Natur zu erklären. Abgerüstet wird in der Tat: die sinnliche Aneignung findet nicht mehr statt. Nur Schauen und Staunen ist erlaubt. Wir haben mit dieser Natur nichts mehr zu tun. Sie wird uns aus zweiter Hand geliefert – von touristischen Fachleuten. Im Bus sitzen ist wie herkömmliches Kino, allerdings besser: Wir sind mittendrin im Film. Eine interaktive Aufführung. Auch ein Modell für den Umgang mit Natur.

Und vermutlich das realistische. Denn es fügt sich in die weiteren Entwicklungspläne: hier Natur für den Tourismus verbauen und dort Natur für den Tourismus präparieren. Auch die Naturschützer haben es hingenommen. Weil erwartungsgemäß die Touristenzahlen steigen werden, da rettet man lieber, was noch zu retten ist. Und arrangiert sich mit der Tourismusindustrie. „Wir wollen Frieden hierzulande“, sagt Diaz Payarez von der Umweltgruppe El Guincho. Natürlich ist er für einen „alternativen Tourismus“. Aber: „Dies ist das letzte, was diese Inseln noch brauchen, nämlich daß zum bestehenden noch ein anderer Tourismus hinzukommt.“ Und so ist Lanzarote vollständig auf industrialisierten Großtourismus zugeschnitten. Mit Kunstfertigkeit, Kunst und Künstlichkeit: dreimal K, und weiter geht's – mit der Perspektive, noch perfekter inszeniert zu werden. Lanzarote ist heute schon ein Modell virtueller Wirklichkeit.

Individualreisende müssen hier gewarnt werden: öffentliche Verkehrsmittel fahren die touristischen Highlights nicht an, und Privatunterkünfte darf man mit der Lupe suchen. Das Modell Lanzarote verträgt nur Pauschaltourismus.

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